# taz.de -- Debatte Wulff: Die herrschende Klasse | |
> Wulffs Rücktritt wäre angemessen – relevant ist er allerdings nicht. | |
> Wichtiger ist die Durchleuchtung des Geflechts von Politik und Ökonomie. | |
Bild: Ein Rücktritt von Wulff ist angebracht, löst aber das Problem nicht. | |
Christian Wulff ist nominell Bundespräsident, aber vor allem symbolisiert | |
er die aktuelle politische Klasse. Wulff steht für die oft harmlos | |
daherkommende, in der Addition und Qualität vorhandener Beziehungen jedoch | |
machtvoll entdemokratisierende Symbiose von politischer und ökonomischer | |
Macht. Ob er zurücktritt, ist letztlich weniger relevant. | |
Was passiert denn nach Ende der Personaldebatte? Das ist die entscheidende | |
Frage. Sollte die Öffentlichkeit den eigentlichen Kern des Problems wieder | |
aus dem Auge verlieren und stattdessen über weiche Faktoren wie "Würde", | |
"Vertrauen" oder "Kommunikation" räsonieren, wäre nichts gewonnen. | |
Das gilt erst recht, wenn im Falle einer neuen Kandidatenkür wiederum nur | |
diese Kriterien diskutiert werden. Das Potenzial kritischer Öffentlichkeit | |
hätte sich nur angedeutet. Die Medienmacht wäre zurückgekehrt in den warmen | |
Schoß einer unhinterfragt bleibenden ökonomischen Vermachtung. | |
## Die Macht des Informellen | |
Folgt man der Analyse des Elitentheoretikers Gaetano Mosca (1858-1941), so | |
wird es immer eine herrschende und eine beherrschte Klasse geben. Die | |
herrschende Klasse sei wesentlich kleiner, sichere ihre Machtposition aber | |
durch die Fähigkeit zur Organisation und trage in der Regel | |
familienähnliche Züge. Moscas These kann auch heute noch zur kritischen | |
Politikanalyse herangezogen werden. Man muss sie anpassen und insbesondere | |
der Informalität von Beziehungsstrukturen Beachtung schenken. | |
Außerdem gilt es zu bedenken, dass die Beteiligten ihre eigene Position im | |
Spiel bisweilen gar nicht wahrnehmen – vor allem, wenn es funktioniert. | |
Wulffs Fall zeigt, welcher Dominoeffekt ausgelöst werden kann, wenn ein | |
Teil des Beziehungsgeflechts zerreißt, in diesem Fall die informelle | |
Allianz zwischen dem Bundespräsidenten und Bild. | |
Seitdem haben insbesondere drei Printmedien Wulff ins Visier genommen. Das | |
ist trotz eines gehörigen Maßes an Klein-Klein und Spekulation berechtigt. | |
Wulff hat den Landtag getäuscht und verkauft einen Kredit zu | |
Traumkonditionen als Normalität. Die Allianz von Bild, Spiegel und FAZ ist | |
dennoch einzigartig. Kommentare, Titelblätter und das Spiel über Bande | |
spiegeln eine zwar unterschiedlich motivierte, aber mannschaftlich | |
geschlossene Eindeutigkeit der Verurteilung. Deren Resonanzboden besteht | |
darin, dass über Wulff sinnbildlich geurteilt wird. | |
Unausgesprochen steht er für jene Angehörigen der politischen Klasse, deren | |
programmatische Eigenleistungen über die attestierte | |
Wirtschaftsfreundlichkeit hinaus im Nanobereich zu suchen sind. Nur so | |
können selbstverständliche Sätze ("Der Islam gehört inzwischen auch zu | |
Deutschland") als revolutionäre Aussprüche gedeutet werden. Das Verwalten | |
des Politischen im Dienste der Wirtschaft paart sich häufig mit | |
persönlichen Beziehungen zu ökonomischen Eliten, deren Existenz im | |
Idealfall von der nun zerbrochenen Allianz zum Boulevard zugekleistert | |
wird. | |
In diesem Teich ist Wulff ein Fisch von eher bescheidenem Format. Wäre da | |
nicht seine Position. Andere wurden pfleglicher behandelt, obwohl nach | |
Ausscheiden aus dem Amt die Lobbyarbeit – Pardon! – Beratungstätigkeit mit | |
Bezug zum ehemaligen Entscheidungsbereich zur üblichen Berufswahl gehört. | |
Gerhard Schröder und Roland Koch sind nur die bekanntesten Protagonisten | |
einer unlauteren, aber rechtlich offenbar tolerablen Praxis. | |
Die absolute Trennung von Politik und Ökonomie mag man wahlweise als Relikt | |
antiker Philosophie oder utopisches Ziel ansehen. Die systematische | |
Missachtung und Umkehrung des Prinzips untergräbt jedoch die Demokratie. | |
Dafür steht etwa die Besetzung und Arbeitsweise der "Hartz-Kommission" im | |
Jahr 2002, wo zwei Gewerkschaftsvertretern die Zustimmung zu den Eckpunkten | |
der gleichnamigen Reform abgerungen wurde. Dafür stehen die handverlesenen | |
Wirtschaftsdelegationen, mit denen Guido Westerwelle seine ersten | |
Auslandsreisen antrat. | |
Dafür steht die Mitarbeit von Lobbyisten in Ministerien oder die informelle | |
Einbindung des Bankensektors in die Entscheidungsprozesse europäischer | |
Bankenrettung. Und dafür stehen eben auch – eher auf der symbolischen denn | |
auf der entscheidungsrelevanten Ebene – Wulffs Freundschaften und | |
Kreditkonditionen. Kurzum: Geht es um eine amtierende Person von | |
offensichtlicher Fehlbarkeit, so geht der mediale Aufmerksamkeitspegel eine | |
temporäre Allianz mit den Funktionen kritischer Öffentlichkeit ein. Die | |
Trophäe verbindet. | |
## Hang zur Wutpresse | |
Der beobachtbare Hang zur Wutpresse liegt aber auch darin begründet, dass | |
die Printmedien ihre Rolle zur Zeit des neoliberalen Reformdiskurses | |
insgeheim kritisch bewerten. Vom Fernsehen ist diese Selbstreflexion nicht | |
zu erwarten. Das Medium hinkt intellektuell ähnlich hinterher wie die | |
Bloggerszene. Umso wichtiger ist es deshalb, dem informellen | |
Beziehungsgeflecht von Politik und Ökonomie auch ohne personalisierten | |
Skandalisierungsfaktor nachzugehen. | |
Es gibt starke Indizien für die modifizierte Existenz einer herrschenden | |
Klasse. Die Bevölkerung teilt derartige Vorurteile. Solange die | |
Diskussionen aber symbolisch auf "den Fall Wulff" und andere Ausreißer | |
beschränkt bleiben, kann die Politik damit recht gut leben, ohne an | |
überkommenen Strukturen zu rütteln. | |
Es gilt andere Fragen zu stellen als diejenige nach dem Rücktritt des | |
Präsidenten. Sind die Transparenzregeln für Nebeneinkünfte von Abgeordneten | |
ausreichend? Welche Nebentätigkeiten sollten verboten werden? Wie lässt | |
sich das Lobbywesen wirksam regulieren? Sollte man Berufsbeschränkungen und | |
extensive Karenzzeiten für ausgeschiedene Amtsträger einführen? | |
Wulff dient als Symbol für die politische Klasse, von deren Machtkalkülen | |
er sich mit naiven Menschlichkeitsbekundungen zu distanzieren sucht. Die | |
Ausweitung von Transparenz- und Inkompatibilitätsregeln würde der | |
Überzeugungskraft solcher Symbolisierungen entgegenwirken. Eine kritische | |
Öffentlichkeit hat die Aufgabe, das Einhalten dieser Regeln einzufordern. | |
Die Alternative besteht darin, sich wieder auf Tattoos und Adelstitel zu | |
konzentrieren. | |
12 Jan 2012 | |
## AUTOREN | |
Markus Linden | |
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