# taz.de -- Behandlung von Schlaganfallpatienten: Implantate außer Kontrolle | |
> Ein Metallröhrchen weitet Adern im Gehirn und soll Schlaganfall-Patienten | |
> helfen. Aber sie steigern das Sterberisiko. In Deutschland will davon | |
> keiner etwas wissen. | |
Bild: Medikamente helfen bei verkalkten Arterien besser als ein Metallteilchen … | |
BERLIN taz | Es war eine große Hoffnung für Tausende Schlaganfallpatienten | |
und wurde der Öffentlichkeit als medizinischer Durchbruch verkauft: | |
"Maschendraht verhindert Schlaganfall" betitelte das Universitätsklinikum | |
Heidelberg seine Pressemitteilung vom 24. Oktober 2007 und verkündete | |
stolz: "Die Implantation einer winzigen, maschenartigen Metallröhre | |
("Stent") in ein verengtes Blutgefäß im Gehirn kann gefährdete Patienten | |
vor einem Schlaganfall bewahren." | |
Dies habe eine internationale Studie gezeigt, die in der Abteilung | |
Neuroradiologie der Neurologischen Universitätsklinik Heidelberg | |
koordiniert wurde. | |
Getestet worden war das innovative Stentsystem namens "Wingspan" des | |
Medizinprodukte-Herstellers Boston Scientific - seine deutsche | |
Niederlassung befindet sich in Ratingen nahe Düsseldorf - zwar an nur 45 | |
Patienten weltweit. Auch gab es keine Kontrollgruppe, die in der | |
medizinischen Wissenschaft üblicherweise als unerlässlich gilt, um | |
belastbare Aussagen bezüglich der Effektivität einer Therapie zu treffen. | |
Dennoch legte sich der Studienleiter Marius Hartmann fest: "Von der neuen | |
Therapie profitieren Patienten, die immer wieder Durchblutungsstörungen im | |
Gehirn oder einen Schlaganfall erleiden, deren Ursache eine Verengung eines | |
Blutgefäßes im Gehirn ist." | |
Die Zulassung für den europäischen Markt erfolgte kurze Zeit später - nicht | |
etwa durch den Staat, sondern durch eine privatwirtschaftliche, sogenannte | |
"benannte Stelle", beauftragt und bezahlt vom Hersteller. Nach dem | |
Medizinproduktegesetz ist das so üblich - und das genau ist das Problem. | |
## Nur technisch funktionieren sie | |
Im Fall der Wingspan-Stents hatte sich die Herstellerfirma Boston | |
Scientific die KEMA mit Sitz im niederländischen Arnhem ausgesucht, die | |
heute DEKRA heißt. Die Prüfer mussten - anhand schriftlicher Unterlagen des | |
Herstellers - lediglich beweisen, dass die Stents technisch funktionierten, | |
nicht aber, dass sie ihren Patienten in irgendeiner Weise nutzten. | |
Inzwischen weiß man: Sie helfen keineswegs. Im Gegenteil, sie schaden, und | |
zwar massiv: Die Zahl der Schlaganfälle, die durch die Gefäßprothesen | |
eigentlich verhindert werden sollen, steigt nach dem Einbau der Implantate. | |
Sie ist bei Stent-Trägern mehr als doppelt so hoch wie bei Patienten, die | |
herkömmlich mit blutverdünnenden Medikamenten behandelt werden. Das ist das | |
erschreckende Ergebnis einer sogenannten randomisierten Studie im New | |
England Journal of Medicine (NEJM) vom September 2011. | |
451 Patienten waren nach dem Zufallsprinzip zwei vergleichenden Testgruppen | |
zugeordnet worden; 227 von ihnen wurden konventionell medikamentös | |
behandelt, 224 mit Stents. Die Folgen sind entsetzlich: 33 Patienten aus | |
der Gruppe mit Stents erlitten in den ersten 30 Tagen nach Einbau einen | |
Hirnschlag, fünf starben. | |
Es ist unklar, was genau die Probleme verursacht, die Metallröhrchen selbst | |
blieben jedenfalls intakt. Unter den medikamentös Behandelten gab es im | |
gleichen Zeitraum 13 Schlaganfälle und einen Todesfall, der allerdings | |
nicht schlaganfallbedingt war. Die Studie wurde abgebrochen, die | |
Zulassungsbehörde geriet unter extremen Druck - in den USA. | |
In Deutschland dagegen sind die Wingspan-Stents weiterhin auf dem Markt, | |
werden von der gesetzlichen Krankenversicherung bezahlt und eingesetzt: | |
Mehr als 50 Krankenhäuser beantragten allein in den Jahren 2009 und 2010 | |
Stents für intrakranielle Gefäße bei dem für neue Untersuchungs- und | |
Behandlungsmethoden zuständigen Institut für das Entgeltsystem im | |
Krankenhaus (InEK). | |
## Thema nur in Fachkreisen | |
Der Aufschrei, der die USA seit Studienveröffentlichung erschüttert, ist in | |
Deutschland bis heute ausgeblieben: Weder hielten es die wissenschaftlichen | |
Fachgesellschaften für nötig, Warnungen auszusprechen, noch starteten die | |
deutschen Aufsichts- und Kontrollbehörden Rückrufaktionen. Nicht einmal | |
öffentliche Warnhinweise oder Informationskampagnen hielt die staatliche | |
Aufsicht, das dem Bundesgesundheitsministerium zugeordnete Bundesinstitut | |
für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), hierzulande für nötig. Die | |
Studienergebnisse zirkulieren in Deutschland nur in Medizin-Fachkreisen. | |
Die Uniklinik Heidelberg, die die taz bereits am Dienstag um Stellungnahme | |
gebeten hatte, wollte sich bis Redaktionsschluss am Donnerstagabend nicht | |
äußern. Der Bundesverband Medizintechnologie (BVMed), Wirtschafts- und | |
Interessenverband der Medizinproduktehersteller in Deutschland, preist die | |
Stents auf seiner Webseite weiterhin als Errungenschaft. | |
Wie kann das sein? Nach dem Skandal um defekte Brustimplantate des | |
französischen Herstellers PIP und der Kritik an dem Warn- und Meldesystem | |
hierzulande sind die Stents nur ein weiteres Beispiel unter vielen für das | |
EU-weite Versagen bei der Zulassung und Kontrolle von Medizinprodukten. Das | |
liegt weniger an behördlicher Schläfrigkeit. | |
Schuld ist vielmehr eine Gesetzeslage, die die staatliche Aufsichtsbehörde, | |
also das BfArM, zu einem kompetenzlosen Beobachter degradiert. Sie soll | |
zwar gesundheitliche Gefahren durch Arzneimittel und Medizinprodukte | |
erkennen und abwehren. Im konkreten Fall aber soll sie nicht einschreiten. | |
12 Jan 2012 | |
## AUTOREN | |
Heike Haarhoff | |
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