# taz.de -- Schmerzmittelmissbrauch in Deutschland: Pharmaindustrie in Aufruhr | |
> Die Hersteller sehen keine Gefahr des Schmerzmittelmissbrauchs. Im | |
> Februar entscheiden Experten darüber, ob sie eine Begrenzung der | |
> Packungsgrößen empfehlen. | |
Bild: Mal schnell zur Apotheke, Pillen holen – natürlich in der Vorratsgrö… | |
BERLIN taz | Die Aufregung in der Pharmabranche ist groß, seit die deutsche | |
Arzneimittelzulassungsbehörde in Bonn damit droht, die Packungsgrößen | |
rezeptfrei erhältlicher Schmerzmittel – sogenannter over-the-counter, also | |
"Über den Ladentisch"-Analgetika – im Interesse der Patienten deutlich zu | |
verkleinern. Der Bundesverband der Arzneimittelhersteller (BAH) etwa | |
unterstellt, es gebe "keinen sachlichen Grund" für die Reduzierung der | |
Packungsgrößen. Die Kunden gingen "sehr behutsam" mit Mitteln wie Aspirin, | |
Paracetamol oder Ibuprofen um, sagt der Geschäftsführer Wissenschaft des | |
BAH, Elmar Kroth: "Es gibt keinen Anlass, Fehlgebrauch in weitem Umfang zu | |
vermuten." | |
Tatsächlich ist der Schmerzmittelgebrauch in Deutschland seit Jahren | |
konstant und, jedenfalls im internationalen Vergleich, relativ niedrig. Das | |
Institut für Medizinische Statistik (IMS) hat ausgerechnet, dass der | |
jährliche Pro-Kopf-Schmerzmittelverbrauch in Deutschland 50 "Einzeldosen" | |
entspricht, also 50 Schmerztabletten pro Kopf und Jahr. In Frankreich und | |
Skandinavien ist der Verbrauch mit annähernd 150 Einzeldosen pro Kopf und | |
Jahr fast dreimal so hoch. Dabei unterscheidet das IMS zwischen | |
rezeptpflichtigen und rezeptfreien Schmerzmitteln: Von den 50 Einzeldosen | |
pro Jahr und Kopf in Deutschland entfallen 29 auf rezeptfreie Schmerzmittel | |
und 21 auf rezeptpflichtige. | |
Nach Angaben des BAH wurden im Jahr 2010 im Indikationsbereich | |
verschreibungsfreier Schmerzmittel 449 Millionen Euro | |
(Endverbraucherpreise) umgesetzt. Das möge nach einer | |
vernachlässigenswerten Summe klingen, verglichen mit den rund 30 Milliarden | |
Euro, die die gesetzlichen Krankenkassen jährlich für Arzneimittel | |
ausgeben, erklärt der Geschäftsführer des pharmakritischen | |
Arznei-Telegramms, Wolfgang Becker-Brüser: "Dennoch müssen wir immer wieder | |
darauf hinweisen, dass die Unverträglichkeit dieser sogenannten kleinen | |
Schmerzmittel mit der Dosis und der Einnahmedauer steigt." Becker-Brüser | |
fordert deswegen nicht nur eine Reduzierung der Packungsgrößen. Vor allem | |
für das Schmerzmittel Paracetamol solle wegen der Gefahr von Leberschäden | |
eine generelle Verschreibungspflicht gelten. Paracetamol-Kombipräparate wie | |
Grippemittel hält er für komplett "verzichtbar". | |
Auch der Vorsitzende der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, | |
Wolf-Dieter Ludwig, warnt vor einer "Verharmlosung" der rezeptfreien | |
Schmerzmittel und würde kleinere Abgabemengen "prinzipiell" begrüßen. Er | |
stellt aber klar, dass Panikmache unangebracht sei: "Die Medikamente, um | |
die es hier geht, kennen wir alle sehr gut. Entsprechend gut können wir | |
ihre Schädigungen beurteilen - besser als bei vielen Arzneimitteln, die | |
erst seit Kurzem auf dem Markt sind." | |
## Patienten vermissen Aufklärung | |
Unterdessen hat eine Ende vergangener Woche vorgestellte repräsentative | |
Studie der Krankenkasse IKK classic ergeben, dass die Mehrheit der | |
Deutschen eine intensive Beratung über Wirkungen und Risiken von | |
Arzneimitteln vermisst. Mehr als ein Drittel der Befragten kritisierte, | |
dass Ärzte bislang zu wenig über Arzneimittelwirkungen beraten würden. | |
Auch bei den Ansprüchen an die künftige Versorgung gaben die Befragten der | |
Sicherheit höchste Priorität: Für 80 Prozent der Befragten sollte | |
Arzneimittelsicherheit immer Vorrang vor Kostenfragen haben. Und: Eine | |
Mehrheit von 56 Prozent plädierte für höhere Hürden bei der Zulassung neuer | |
Medikamente. | |
Der Sachverständigenausschuss für Verschreibungspflicht des BfArM will in | |
seiner nächsten Sitzung im Februar eine Empfehlung zu den künftig | |
zulässigen Packungsgrößen geben. Fällt das Votum zugunsten der angestrebten | |
3- bis 4-Tage-Höchstdosis aus, dann gilt eine entsprechende gesetzliche | |
Neuregelung als sehr wahrscheinlich. | |
23 Jan 2012 | |
## AUTOREN | |
Heike Haarhoff | |
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