# taz.de -- Ökonom über die Wirtschaftskrise: "Mehr als finanzielle Handschel… | |
> Nobelpreisträger und Ökonom Joseph Stiglitz übers Sparen, Eurobonds, | |
> einen größeren Rettungsschirm, Strategien gegen die Krise und Angela | |
> Merkel. | |
Bild: "Die Verwandten besuchen die Kranken nicht und leisten keine finanzielle … | |
taz: Kanzlerin Merkel hat in ihrer Davoser Eröffnungsrede gesagt, dass sie | |
die gemeinsame europäische Währung gern bewahren wolle. Mehr deutsches Geld | |
mag sie dafür vorläufig aber nicht erübrigen. Kann diese Strategie | |
funktionieren? | |
Joseph Stiglitz: Ihre Kanzlerin muss erkennen, dass Deutschland in jedem | |
Fall zahlt - egal ob der Euro gerettet wird oder nicht. Welcher der beiden | |
Wege teurer ist, kann heute niemand abschätzen. Möglicherweise ist | |
zusätzliche Hilfe für verschuldete Staaten im Endeffekt die billigere | |
Lösung. Als Merkel in ihrer Rede beim Weltwirtschaftsforum das Wort | |
"Solidarität" benutzte, freute ich mich zunächst. In Familien bedeutet | |
"Solidarität" ja beispielsweise, dass man mit demjenigen schimpft, der vom | |
Rauchen Lungenkrebs bekommen hat, ihm dann aber trotzdem die bestmögliche | |
Therapie bezahlt. Im Verlauf der Rede mussten wir allerdings lernen, dass | |
Solidarität in Merkels Sinn heißt: Die Verwandten besuchen den Kranken | |
nicht im Hospital und leisten auch keine finanzielle Hilfe. | |
Einspruch - so egoistisch ist Deutschland doch gar nicht. Gleichwohl rät | |
beispielsweise der Internationale Währungsfonds, die europäischen | |
Rettungsfonds auf rund eine Billion Euro zu verdoppeln. Meinen auch Sie, | |
die stabilen Staaten sollten noch mehr Geld zur Verfügung stellen, um die | |
Krise zu beenden? | |
Ja, größere finanzielle Verpflichtungen sind notwendig. Ich schlage vor, | |
dass die Mitglieder der Eurozone gemeinsame Staatsanleihen herausgeben. | |
Durch die Garantie aller würden die Zinsen sinken, die Griechenland oder | |
Portugal an den Rand des Bankrotts drängen. Zum Vergleich: Wenn nicht die | |
US-Regierung Staatsanleihen herausgeben würde, sondern jeder einzelne | |
Bundesstaat, wäre Kalifornien längst pleite. | |
Auch Eurobonds sind Schuldscheine von Staaten, in die die privaten | |
Investoren allmählich das Vertrauen verlieren. Liegt nicht die bessere | |
Lösung darin, dass die Europäische Zentralbank (EZB) eine unbegrenzte | |
Garantie für die Eurozone übernimmt? | |
Grundsätzlich sollte eine Zentralbank nicht die Regierungen finanzieren. Im | |
Augenblick allerdings ist es ratsam, eine Ausnahme zu machen. Wobei die EZB | |
gegenwärtig den falschen Weg beschreitet. Für die Demokratie ist es nicht | |
gesund, wenn die Zentralbank den Banken hunderte Milliarden Euro zu | |
Niedrigzinsen leiht und die Institute diese Mittel für viel höhere Zinsen | |
an die Regierungen weitergeben. So verdienen die Banken Milliarden, worüber | |
die Steuerzahler zu Recht sauer sind. Viel besser wäre es, wenn die EZB die | |
Staatsanleihen den Staaten direkt abkaufen würde - ohne Umweg über die | |
Banken. | |
Ist Merkel die brutale Sparkommissarin, als die sie im Ausland oft | |
dargestellt wird? | |
Auch ich habe den Eindruck, dass die deutsche Politik zu einseitiges | |
Gewicht auf fiskalische Disziplin legt. | |
Ist diese Disziplin angesichts der hohen Staatsschulden nicht ein Teil der | |
Antwort? | |
Fiskalische Disziplinlosigkeit zu vermeiden hilft zweifellos, eine ähnliche | |
Krise für die Zukunft zu verhindern. Aber sie ist keine Antwort auf die | |
aktuellen Probleme. Dadurch sinken weder die Zinsen noch sinkt die | |
Arbeitslosenquote in Griechenland. | |
Sie sind dafür, mehr öffentliches Geld einzusetzen, um das Wachstum | |
anzukurbeln. | |
Das ist unbedingt notwendig. Europaweites Sparen reicht nicht aus, um die | |
Krise zu überwinden. Und dafür braucht man auch mehr Geld. Deutschland | |
sollte einen besonderen Ansatz verfolgen. Ihr Land trägt Verantwortung | |
dafür, seinen Exportüberschuss zu verringern, und mehr Importe aus anderen | |
Ländern tätigen. | |
Das ließe sich erreichen, indem die Bundesregierung einerseits die | |
Nachfrage stärkt. Eine Umverteilung von Einkommen von oben nach unten | |
mittels der Steuerpolitik und stärkere Lohnerhöhungen als im vergangenen | |
Jahrzehnt wären richtige Maßnahmen. Helfen können außerdem öffentliche | |
Investitionen in Infrastruktur, Bildung und eine klimafreundliche | |
Energieversorgung. Hier kommt die Solidarität wieder ins Spiel. Man muss in | |
Europa gemeinsam überlegen, welche Maßnahmen in welchem Land am | |
sinnvollsten sind. | |
Halten Sie es für den richtigen Weg, die europäische Integration | |
voranzutreiben? | |
Auf jeden Fall. Aber eine intensivere Kooperation in Europa bedeutet mehr | |
als finanzielle Handschellen. Ein gemeinsames Gefängnis zu bauen ist keine | |
politische Vision. Dazu gehören ein Sozialpakt zwischen Regierungen und | |
Bürgern, eine abgestimmte Finanzpolitik und gemeinsame Institutionen. | |
Kann Europa ein Modell für andere Weltregionen sein? | |
Ja, und es wäre dann auch ein Modell dafür, was man tun muss, um eine | |
funktionierende Union unabhängiger Staaten zu verwirklichen. Der gemeinsame | |
Markt ist zwar eine gute Sache, aber freier Handel ist nicht alles. Auch | |
eine gemeinsame Währung ist nur ein kleiner Schritt auf dem Weg. Man muss | |
darüber hinausgehen zu einer politischen Union, die aber auch soziale | |
Mindeststandards zugunsten der Bürger garantiert. | |
Wird Europa die Krise lösen? | |
Wenn es gelingt, die nächste Stufe der politischen Union zu erreichen, ist | |
die Wahrscheinlichkeit, der Krise Herr zu werden, hoch. Wichtig ist aber, | |
dass die Staaten wirkliche Solidarität praktizieren. Sonst machen die | |
Bürger nicht mehr lange mit. | |
29 Jan 2012 | |
## AUTOREN | |
Hannes Koch | |
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