| # taz.de -- Abschluss der Berlinale: Ein Festival der leisen Korrespondenzen | |
| > Dieter Kosslick und sein Team stellten ein inspirierendes und | |
| > zeitkritisches Filmprogramm zusammen. Nur die Juryentscheidungen hinkten | |
| > hinterher. | |
| Bild: Die Brüder Paolo und Vittoria Taviani mit ihrer Siegestrophäe am Samsta… | |
| Die gute Nachricht lautet: Die Berlinale ist aus ihrem Dornröschenschlaf | |
| erwacht. Nachdem das Profil des Filmfestivals zuletzt immer beliebiger | |
| geworden und die Kritik daran immer lauter geworden ist, ist die | |
| Erleichterung in diesem Jahr groß. Wenn sie nur wollen, sind Dieter | |
| Kosslick und sein Team eben doch dazu in der Lage, ein inspirierendes | |
| Programm zusammenzustellen. | |
| Im Wettbewerb gab es kaum Ausfälle, und neben einigen durchschnittlichen | |
| liefen genügend gute Filme, für die Nebenreihen galt das Gleiche. | |
| Das Mantra, unter den drei großen Filmfestivals sei die Berlinale das | |
| politischste, füllte sich endlich einmal positiv mit Inhalt, feine | |
| Verbindungslinien spannen sich zwischen den einzelnen Sektionen, Motive und | |
| Sujets kehrten wieder, ohne dass es aufdringlich geworden wäre, | |
| Filmgeschichte und Kinogegenwart befruchteten sich gegenseitig, und es gab | |
| sogar eine Sensation zu feiern, den berückenden Wettbewerbsbeitrag "Tabu" | |
| des portugiesischen Regisseurs Miguel Gomes. | |
| Kurz, das Festival war anregend, es steckte voller ästhetischer Genüsse und | |
| fand endlich wieder Anschluss an das, was Kino heute ist und sein kann. | |
| Die nicht ganz so gute Nachricht lautet: Die Jury unter Vorsitz des | |
| britischen Regisseurs Mike Leigh hinkt dieser Entwicklung hinterher. Der | |
| Goldene Bär geht an einen Film der Brüder Paolo und Vittorio Taviani, | |
| "Cesare deve morire" (Cäsar muss sterben), was sich als Verbeugung vor der | |
| Lebensleistung der 1931 respektive 1929 geborenen Italiener verstehen | |
| lässt. Der in einem Gefängnis gedrehte Film verwischt kunstvoll die Grenzen | |
| zwischen Fiktion und Wirklichkeit, man glaubt eine ganze Weile, die | |
| Häftlinge, die für eine Theaterinszenierung Shakespeares "Julius Cäser" | |
| einstudieren, würden von Schauspielern verkörpert, und ist umso | |
| überraschter, wenn man begreift, dass die Tavianis hier mit echten | |
| Schwerverbrechern arbeiten, deren triste Knastexistenz von den Dialogen | |
| Shakespeares erweitert, gespiegelt, durchdrungen wird. | |
| Gegen Ende des Films sagt einer der Männer, seit er die Kunst kennengelernt | |
| habe, begreife er, wie eng seine Zelle sei: eine Auffassung, die in ihrem | |
| Humanismus ehrenwert, aber auch ein wenig pathetisch und verstaubt ist. | |
| Auch die zweitwichtigste Auszeichnung, der Große Preis der Jury, vermag | |
| nicht ganz zu überzeugen. Sie geht an "Csak a szél" (Nur der Wind) von | |
| Bence Fliegauf. Der ungarische Film kreist um ein brisantes Thema, nämlich | |
| um die antiziganen Pogrome, die sich 2011 in Ungarn zutrugen. | |
| Fliegauf skizziert einen Tag im Leben einer Roma-Familie; die Kamera ist | |
| nah dran an den Figuren und an den Gegenständen, so nah, dass der | |
| Hintergrund niemals Kontur gewinnt. Die fahrigen Bewegungen tun ein | |
| Übriges, damit die Orientierung im Bild erschwert wird. Leider ist diese | |
| Art der Kameraführung mittlerweile zu einer Chiffre geronnen – wo immer die | |
| Lebensumstände prekär sind, schaut eine nervöse Kamera von hinten auf die | |
| rastlosen Figuren. Das macht Fliegaufs Film letztlich weniger stark, als er | |
| sein könnte. | |
| ## Reflektiertes Verhältnis | |
| Die beeindruckendsten Filme des Wettbewerbs – Ursula Meiers "Lenfant den | |
| haut", Christian Petzolds "Barbara" und Gomes "Tabu" – finden sich zwar in | |
| den Entscheidungen der Jury berücksichtigt, bekommen aber nachgeordnete | |
| Preise. Besonders "Tabu" hätte man mehr als den Alfred-Bauer-Preis | |
| gewünscht. | |
| Gomes aus einem Prolog und zwei sehr unterschiedlichen Teilen bestehender | |
| Schwarzweißfilm ist eine wunderbare Reflexion auf Europas Verhältnis zu | |
| Afrika, auf Kolonial- und Kinogeschichte, eine Verbeugung vor dem Stummfilm | |
| und vor Friedrich Wilhelm Murnau, er ist traurig und heiter zugleich und | |
| eine wild wuchernde Ansammlung von Geschichten. | |
| Ein Entdecker lässt sich aus Trauer um seine verstorbene Frau von einem | |
| Krokodil fressen und erwacht in dessen Haut zu neuem Leben, eine alte Frau | |
| namens Aurora träumt von Affen und verspielt daraufhin im Kasino ihr Geld, | |
| ihre Haushälterin Santa, von den kapverdischen Inseln stammend, bringt sich | |
| das Lesen mit "Robinson Crusoe" bei, später, im zweiten Teil des Films, | |
| büxt ein Krokodilbaby aus und führt dabei zwei Menschen in einer | |
| unmöglichen Liebe zusammen. | |
| Ein tödlicher Schuss fällt, die Guerilla reklamiert ihn für sich, die Tage | |
| der Kolonialmacht Portugal gehen ihrem Ende entgegen. In "Tabu" wohnen | |
| Verzauberung und Entzauberung, Naivität und Reflektiertheit, die Freuden | |
| des Kindseins und die Melancholie des Erwachsenen in enger Nachbarschaft. | |
| Auch sonst gab es einiges zu entdecken – besonders schön: die leisen | |
| Korrespondenzen zwischen einzelnen Filmen. Immer wieder ging es um | |
| gesellschaftliche Umwälzungsprozesse. Der Themenschwerpunkt zum Arabischen | |
| Frühling ist in diesem Zusammenhang zu nennen, aber auch Benoît Jacquots | |
| Eröffnungsfilm "Les Adieux à la reine", der im Juli 1789 am Hof von | |
| Versailles spielt und dem Ancien Régime beim Untergehen zuschaut. | |
| In "Tabu" zeichnet sich das Ende eines kolonialen Regimes ab, "Rebelle" von | |
| dem kanadischen Regisseur Kim Nguyen ist mitten in einem afrikanischen | |
| Bürgerkrieg angesiedelt, in "Barbara" von Christian Petzold ist der | |
| Zusammenbruch der DDR zwar noch nicht absehbar, aber der Wind weht so | |
| heftig, dass er alle Pläne und Lebenskoordinaten durcheinanderwirbelt. | |
| Romuald Karmakars im Panorama gezeigter Essay "Angriff auf die Demokratie – | |
| Eine Intervention" verzeichnet das Unbehagen an unserer Gegenwart, in der | |
| sich die Politiker zu Erfüllungsgehilfen von Marktlobbyisten machen. Sosehr | |
| dieser Film, der während einer Diskussionsveranstaltung im Berliner Haus | |
| der Kulturen entstand, auch Gefahr läuft, zu den Bekehrten zu predigen, so | |
| mulmig wird einem, wenn man am Morgen nach der Premiere hört, wie der | |
| Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble im "Deutschlandfunk" mal wieder von | |
| Sachzwängen redet. | |
| Wo sich Politiker so widerstandslos für die Interessen des Marktes | |
| instrumentalisieren lassen, ist die Demokratie möglicherweise in einer viel | |
| größeren Krise, als man es sich in Berlin vorzustellen wagt. Und in welche | |
| Unsicherheit diese Krise führen kann, lässt sich auf den Straßen Athens | |
| beobachten. | |
| ## Kosten der Umbrüche | |
| Umbrüche aber zeitigen hohe Kosten. In der überaus sehenswerten | |
| Retrospektive, den Meschrabpom-Filmen aus Moskau gewidmet, war das deutlich | |
| zu spüren. Juri Scheljabuschski und Aleksej Dmitriew etwa preisen in ihrem | |
| propagandistischen Dokumentarfilm "Das neue Leben" (1930) den rasenden | |
| Fortschritt in der Sowjetrepublik Aserbaidschan. | |
| Das Öl sprudelt, Straßen, Schienen, Fabriken schaffen Struktur, wo eben | |
| noch Wüste war, die Frauen werden befreit. Doch an der Unterseite der | |
| Propaganda kommt zum Vorschein, dass die Menschen unentwegt erzogen, | |
| verbessert, für die Arbeit an den Maschinen abgerichtet werden müssen; noch | |
| beim kollektiven Sonnenbad werden die Arbeiter angewiesen, wann sie sich | |
| von einer Seite ihres Körpers auf die andere zu drehen haben. | |
| Noch eindrucksvoller malt Boris Barnets wunderschöner Stummfilm "Ledolom" | |
| (Eisgang, 1931) die Aporien des Umbruchs aus. In einem Dorf an der Wolga | |
| herrscht trotz der Revolution Misswirtschaft, der reiche Bauer führt zu | |
| wenig Steuern ab und vertuscht dies, indem er den Dorfvorsteher besticht. | |
| Auf den ersten Blick ist "Ledolom" ein Film, der gegen Kulaken und | |
| Bürokraten Stimmung macht, untergründig aber scheint in diesen | |
| traumverlorenen Bildern von Not und Schnee und Hunger eine fundamentale | |
| Erkenntnis auf: Eine neue Ordnung lässt sich nur unter großen Schmerzen | |
| einrichten. Denn die Menschen bleiben die alten. | |
| 19 Feb 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Cristina Nord | |
| ## TAGS | |
| Mafia | |
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