# taz.de -- Filmemacherin Ursula Meier: „Das ist nicht für Menschen gemacht�… | |
> Regisseurin Ursula Meier über ihren Film „Winterdieb“, ihre Kindheit und | |
> die Schwierigkeit, die Diskrepanz zwischen Arm und Reich zu zeigen, ohne | |
> ins Sozialdrama abzudriften. | |
Bild: Die Geschwister Simon (Kacey Mottet Klein) und Louise (Léa Seydoux) im S… | |
taz: Frau Meier, wie kamen Sie auf die Idee, einen Spielfilm in einem | |
Wintersport-Resort zu drehen? | |
Ursula Meier: Es gibt da diesen Ort in der Schweiz, der mich verblüfft. Im | |
Tal ist Industrie, aber kaum hebt man den Blick, sieht man den | |
Wintersportort, das Skigebiet. Dort halten sich sehr reiche Leute auf, die | |
von dem, was im Tal vor sich geht, nichts wahrnehmen, höchstens wenn sie | |
mit dem Auto durchfahren, bei der Hin- und bei der Abreise. Und es gibt | |
Leute, die im Tal wohnen und nie oben sind, weil ihnen zum Skifahren das | |
Geld fehlt. Es ist eine sehr einfache, sehr gegenwärtige Topografie, noch | |
dazu wie gemacht fürs Kino. | |
Verschneite Berge machen eine Menge her. Hatten Sie Angst vor dieser | |
Postkartenschönheit? | |
Gerade in Schweizer Filmen sind die Berge oft Symbol für Freiheit. Damit | |
hatte ich ein großes Problem, weil mir das viel zu schlicht ist. Die Idee | |
war, diesen symbolischen Gehalt gegen den Strich zu bürsten. Deswegen geht | |
es mit der Szene in der engen Toilette los: Der Raum ist ganz klein, die | |
Gesten der Figur auch. Von dort aus wird es dann allmählich größer, weiter. | |
So richtig wollte ich die Berge eigentlich erst am Ende filmen, wenn Simon | |
ganz allein ist. Der Schnee ist weg, alle sind abgereist, und er ist auf | |
einmal wieder Kind, er spielt, ihm gehört dieser ganze Raum. Aber es ist zu | |
spät. Er kann es nicht mehr genießen. | |
Welche Rolle spielte Agnès Godard, die bei „Winterdieb“ die Kamera führte, | |
bei diesen Überlegungen? | |
Wir haben ausgiebig darüber nachgedacht, wie wir die Berge filmen wollten. | |
Mit folgendem Resultat: Oben wollten wir die Sache relativ realistisch | |
angehen und der Perspektive des Jungen folgen. Mir schwebten Bilder vor, | |
die wie eine Erinnerung sind. Als Kind habe ich den Film „Citizen Cane“ | |
gesehen, das Bild von dem Schlitten prägte sich mir ein, und diese Art von | |
Bild wollte ich. Und was das Tal anbelangt, so wollten wir auf keinen Fall | |
Bilder, die an ein Sozialdrama erinnern. Damit das nicht passiert, haben | |
Agnès Godard und ich uns zum Beispiel ein Farbsystem ausgedacht. Die | |
Zeitabschnitte des Films, Weihnachten, Februar und Ostern, sind jeweils mit | |
einer Farbe assoziiert, rund um Weihnachten ist das zum Beispiel die Farbe | |
Blau. Das Tal sollte auf weniger realistische Weise gefilmt werden als die | |
Berge, ein bisschen wie in einem Märchen. | |
Es sieht aus wie Ödland. | |
Ja. Ein Hochhaus, davor eine Straße, dann die Schnellstraße, das ist nicht | |
für Menschen gemacht. | |
Wo ist das denn genau? | |
In der Nähe von Martigny in der Westschweiz. Das Wintersportgebiet ist bei | |
Verbier, die Industrieanlage bei Monthey. | |
Sie sind in der Westschweiz groß geworden, nicht wahr? | |
Ja, am Fuß des Jura. Als Kind war ich ständig Ski fahren, wobei es bei uns | |
nicht so exklusiv war wie im Film, es war ja nur das Jura. Ich arbeitete | |
schon fünf Monate an dem Film, als mir etwas bewusst wurde, was ich total | |
vergessen hatte: die Erinnerung an einen jungen Dieb am Skilift. Ich hatte | |
die Geschichte gar nicht erfunden, ich hatte sie erlebt! | |
Wie alt waren Sie da? | |
Zwölf, so alt wie die Figur im Film. Die Leute, mit denen wir unterwegs | |
waren, zeigten auf einen Jungen und sagten: „Passt auf, das ist ein kleiner | |
Dieb, behaltet eure Sachen im Auge.“ Ich war fasziniert, weil der Junge so | |
alt war wie ich, diese Verschiebung fand ich seltsam, dass da jemand aus | |
einer anderen sozialen Schicht stammte, eine Art Eindringling war, ein | |
Paria. Wir waren zwar auch nicht gerade reich, aber es reichte ja immerhin | |
zum Skifahren. Und ein Skilift ist der einzige Ort, wo man einander noch | |
vertraut. Man ist unter Leuten, die einem gewissen sozialen Milieu | |
angehören, und man lässt seine Skier und seine Ausrüstung vor der Skihütte | |
stehen, das ist ja eigentlich so, als würde man sein iPad vor einem | |
Restaurant liegen lassen. | |
Simon, der junge Dieb, sagt einmal über die Leute, deren Skier und | |
Ausrüstung er klaut: „Die kaufen sich das doch sowieso gleich neu.“ Ist | |
das, was er tut, mehr als Diebstahl? Eine Form der Umverteilung | |
gesellschaftlichen Reichtums? | |
Auf gewisse Weise. Für die Kinder, an die er die Sachen weiterverkauft, | |
macht er korrekte Preise. Ich glaube, er hat keine große Gewissensnot, wenn | |
er’s den Reichen nimmt und an die Armen verkauft. Und wenn er das Diebesgut | |
auf der Skihütte an die Angestellten verkauft, ist das ja ähnlich. Deren | |
Einkommen reicht schlichtweg nicht, um sich den ganzen teuren Skikram zu | |
kaufen. Dabei brauchen sie manche Dinge, etwa die Brillen mit dem hohen | |
UV-Schutz. | |
Es geht unentwegt um die Kluft von Arm und Reich. Sie sagten eben, sie | |
hätten auf keinen Fall gewollt, dass der Film ein Sozialdrama würde. Was | |
haben Sie denn, abgesehen von der Farbgebung, getan, um das zu vermeiden? | |
Sie glauben gar nicht, wie viele Leute mir mit den Brüdern Dardenne kommen. | |
Deren Filme mag ich sehr, aber das heißt doch nicht, dass ich einen | |
Dardenne-Film gemacht habe! Ich denke eher an Maurice Pialat, an „L’enfance | |
nue“. Klar, es gibt einen sozialen Kontext, aber ich wollte zum Beispiel | |
keine Szenen mit Sozialarbeitern oder Polizisten. In der Wirklichkeit würde | |
ein Sozialarbeiter nach dem Rechten sehen; ich hatte beim Schreiben auch | |
die Idee zu einer solchen Szene, habe das dann aber verworfen. Denn die | |
Probleme sind in „Winterdieb“ ähnlich wie in meinem ersten Spielfilm „Ho… | |
in den Figuren begründet. Natürlich ist Simon ein Opfer, schließlich ist er | |
noch ein Kind, aber er spielt auch mit der Situation, er genießt die | |
Freiheit, er findet es toll, seine eigenen Gesetze zu haben. Und Louise … | |
Louise ist eine stolze Person, vielleicht kommt sie nicht einmal aus | |
ärmlichen Verhältnissen, deswegen wollte ich Léa Seydoux für die Rolle. | |
Kacey Mottet Klein, der Darsteller des Jungen, ist sehr bemerkenswert. | |
Er spielte schon in „Home“ mit, damals war er sieben Jahre alt. Das war | |
sein erster Filmdreh, und wir haben sehr viel gearbeitet. Daran, wie man | |
Dialogsätze sagt, ohne zu leiern. Wie man wahrhaftig und spontan bleibt und | |
dabei trotzdem Schauspieltechnik nutzt. Diesmal habe ich mit ihm arbeiten | |
können wie mit einem professionellen Schauspieler. Wir lesen das Skript, | |
gehen die jeweilige Szene durch, und er versteht alles. Und wir besprechen, | |
was sein Körper macht, wie er gestikuliert, wie er mit Geld umgeht. Geld | |
ist ja so wichtig in diesem Film: Wie er es anschaut, wie er es anfasst, | |
wie er es zählt. | |
8 Nov 2012 | |
## AUTOREN | |
Cristina Nord | |
## TAGS | |
Kino | |
ARD | |
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