| # taz.de -- Die Hartz-IV-Bilanz: Fördern und foltern | |
| > Weniger Arbeitslose, aber größere Armut? "Hartz IV muss weg" lautet ein | |
| > beliebter Protestruf. Doch stimmt das? Ein Abgleich von Mythen mit | |
| > Wahrheiten. | |
| Bild: Das schöne Leben mit Hartz IV – oder doch eher das schreckliche Leben … | |
| BERLIN taz | Es war der Beginn einer tiefen Umschichtung in der | |
| Bundesrepublik. Am 22. Februar 2002 berief Bundeskanzler Gerhard Schröder | |
| (SPD) die Kommission "Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" unter dem | |
| Vorsitz von Peter Hartz ein. Einige Monate später übergab Hartz feierlich | |
| den Abschlussbericht. | |
| In den Folgejahren entwickelte die rot-grüne Bundesregierung die | |
| Hartz-Gesetze innerhalb der sogenannten "Agenda 2010". Sie gelten als | |
| Meilenstein in der deutschen Sozialgeschichte. Was stimmt an den Mythen, | |
| die sich um die Hartz-Reformen ranken? | |
| ## These 1: Die Hartz-Kommission ist an allem schuld | |
| Falsch. "Nie hätte ich mir träumen lassen, dass nach der Vorarbeit der | |
| Kommission am Ende diese Gesetze herauskommen könnten", sagt Isolde | |
| Kunkel-Weber vom Bundesvorstand der Gewerkschaft Verdi. Sie war vor zehn | |
| Jahren das einzige weibliche Mitglied der 15köpfigen Hartz-Kommission. "Wir | |
| hatten damals das gemeinsame Ziel, die Arbeitslosenzahlen zu senken". | |
| Kunkel-Weber fühlt sich noch heute im Rückblick als Kommissionsmitglied vom | |
| damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) "missbraucht". Er wollte mit | |
| der Berufung der Kommission aus Politik- , Arbeitgeber- und | |
| Gewerkschaftsvertretern eine volksnahe, einvernehmliche Vorgehensweise | |
| signalisieren. "Die knallharten Gesetze wurden hinterher gemacht", sagt | |
| Kunkel-Weber. | |
| Die Kommission unter Vorsitz des Arbeitsdirektors der Volkswagen AG, Peter | |
| Hartz, hatte den Auftrag bekommen, Vorschläge für die Reform der | |
| Bundesanstalt für Arbeit zu machen. Die Bundesanstalt war durch gefälschte | |
| Vermittlungsstatistiken in Misskredit geraten. | |
| Die Kommission sollte auch Organisationsmodelle für die Zusammenlegung von | |
| Arbeitslosen- und Sozialhilfe entwickeln. "Im Abschlussbericht stand aber | |
| nichts von einer Absenkung der Arbeitslosenhilfe", betont Kunkel-Weber. | |
| Allerdings empfahl der Abschlussbericht die Verkürzung der Bezugsdauer des | |
| Arbeitslosengeldes, "dass das `rein kam, habe ich erst 24 Stunden vor | |
| Abgabe erfahren", erzählt die Verdi-Vorstandsfrau. | |
| Schon zu Zeiten der schwarz-gelben Bundesregierung unter Helmut Kohl war in | |
| der Politik nach Lösungsmöglichkeiten gesucht worden, die lohnabhängige | |
| Arbeitslosenhilfe zu befristen. Die Ausgaben für diese Leistung waren seit | |
| 1991 von knapp vier auf rund 13 Milliarden D-Mark gestiegen. Die | |
| Hartz-Gesetze waren insofern auch eine Spätfolge der Wiedervereinigung und | |
| der damit verbundenen Massenarbeitslosigkeit. | |
| ## These 2: Duch die Hartz-Gesetze verarmten große Teile der Bevölkerung | |
| Wer vorher schon auf Sozialhilfeniveau lebte, wurde durch die Hartz-Gesetze | |
| in der Regel nicht ärmer. Wer sich der Mittelschicht zugehörig wähnte, | |
| fühlte sich durch den Sozialstaat jedoch weniger geschützt. Die rot-grüne | |
| Bundesregierung schaffte ab Januar 2005 die lohnabhängige Arbeitslosenhilfe | |
| ab und führte das bedarfsorientierte Arbeitslosengeld II ein. Sie verkürzte | |
| zudem die Bezugsdauer des vorgeschalteten lohnabhängigen Arbeitslosengeldes | |
| auf 12 Monate, für Ältere auf 18 Monate. | |
| Damit hatte ein Facharbeiter schon nach 12 Monaten Joblosigkeit nur noch | |
| Anspruch auf Arbeitslosengeld II in Höhe der Sozialhilfe, also auf die | |
| gleiche Leistung, die Menschen bekommen, die nie oder nur unstetig | |
| erwerbstätig waren. Die Facharbeiterschaft hat der SPD diese | |
| sozialpolitische Gleichsetzung mit den sogenannten Unterschichtmilieus bis | |
| heute nicht verziehen. | |
| Nach einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) | |
| in Nürnberg verloren knapp zwei Drittel der ehemaligen | |
| Arbeitslosenhilfebezieher Geld, weil die Hartz-IV-Leistungen geringer | |
| waren. | |
| Besser ging es manchen gescheiterten kleinen Selbständigen, die früher | |
| bestenfalls Sozialhilfe bekommen hätten und jetzt einen Antrag auf | |
| Arbeitslosengeld II stellen konnten. Beim Arbeitslosengeld II wird im | |
| Unterschied zur Sozialhilfe nicht auf das Einkommen von Eltern oder Kindern | |
| des Antragsstellers zurückgegriffen. | |
| ## These 3: Hartz IV verschärft die soziale Ausgrenzung | |
| Kommt drauf an, wo man die Grenzen zieht. Die Grenzen zwischen | |
| Erwerbslosen, Prekären und NiedriglohnempfängerInnen sind in den | |
| vergangenen Jahren immer durchlässiger geworden. Selbst mit einem neuen Job | |
| gelingt nur jedem zweiten Arbeitslosen im Hartz-IV-Bezug der Ausstieg aus | |
| der Sozialleistung, stellte das IAB-Institut unlängst fest. Viele können | |
| mit ihrem kleinen Einkommen keine Familie ernähren, oft hält der neue Job | |
| nur ein paar Monate, so etwa in der Zeitarbeit. | |
| Der Pool der 4,5 Millionen erwerbsfähigen Hartz-Empfänger ist zudem recht | |
| heterogen, weil jeder Einkommenslose, der mindestens drei Stunden am Tag | |
| arbeiten kann, dazu zählt. "In keinem anderen Land der OECD werden soviele | |
| Menschen mit (aufgrund von familiären Pflichten oder gesundheitlichen | |
| Belastungen) eingeschränkter Erwerbsfähigkeit als arbeitsfähig definiert", | |
| schreiben die Autoren Anke Hassel und Christof Schiller in ihrem Buch "Der | |
| Fall Hartz IV". | |
| ## These 4: Die Hartz-Gesetze fördern prekäre Beschäftigungsverhältnisse | |
| Das stimmt, besonders was die Leiharbeit betrifft. Die Hartz-Kommission | |
| hatte sich von einer Flexibilisierung auf dem Arbeitsmarkt noch positive | |
| Effekte erhofft. Im Abschlussbericht der Hartz-Kommission heißt es: "Im | |
| europäischen Vergleich ist der Markt für Zeitarbeit in Deutschland | |
| unterentwickelt. Hier besteht ein hohes Beschäftigungspotenzial". | |
| Mit der Agenda 2010 hob die Bundesregierung das sogenannte | |
| Synchronisationsverbot in der Leiharbeit auf. Fortan konnten die | |
| Zeitarbeitsunternehmen ihre Kräfte anheuern und entlassen entsprechend der | |
| Nachfrage der Entleiher. "Das war der Sündenfall", sagt Kunkel-Weber heute. | |
| Firmen ersetzten manche Normalarbeitsverhältnisse durch Leiharbeit. Doch | |
| damit sinkt die Chance für Zeitarbeiter, jemals wieder in einem Betrieb als | |
| Festangestellte Fuß zu fassen. | |
| Dass die Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt unerwünschte Folgen hatte, | |
| zeigte sich auch in der Reform der Minijobs. 2003 führte die | |
| Bundesregierung hier eine neue Verdienstobergrenze von 400 Euro ein, auch | |
| Minijobs neben einer Haupttätigkeit waren jetzt abgabenfrei. Die Folge | |
| zeigt sich im Gastgewerbe und im Handel, wo die Zahl der Minijobs und | |
| Teilzeitstellen wuchs. Nach Zahlen des Statistischen Bundesamtes arbeiten | |
| heute im Hotel- und Gaststättengewerbe 40 Prozent der Beschäftigten in | |
| Teilzeit, davon wünscht sich jeder Dritte, mehr zu arbeiten, findet aber | |
| keine Vollzeitstelle mehr. | |
| ## These 5: Mit den Hartz-Reformen breitete sich der Niedriglohnsektor aus | |
| Der Niedriglohnsektor ist gewachsen, diese Entwicklung begann nicht erst | |
| mit den Hartz-Reformen, wurde aber durch diese verstärkt. Zwischen 1998 und | |
| 2007 stieg der Anteil der Niedriglöhner von 14 auf 22 Prozent aller | |
| abhängig Beschäftigten, so die Zahlen des Instituts Arbeit und | |
| Qualifikation in Duisburg-Essen. Unter Niedriglohn versteht man Entgelte, | |
| die weniger als zwei Drittel des mittleren Einkommens erreichen. Vor allem | |
| Frauen ackern in Teilzeit zu Niedriglöhnen, darunter viele Frauen, die | |
| wegen des Partnereinkommens keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld II hätten. | |
| Wie Erhebungen des IAB-Instituts zeigen, bemühen sich seit den | |
| Hartz-Reformen zudem Arbeitslose heute um Jobs, die sie früher vielleicht | |
| wegen der niedrigen Bezahlung nicht angenommen hätten. | |
| ## These 6: Infolge der Hartz-Gesetze sank die Zahl der Arbeitslosen | |
| Dass Deutschland vergleichsweise gut durch die Finanzkrise 2009 kam, lag | |
| nicht an den Hartz-Gesetzen, sondern an sozialpolitischen Schutzmaßnahmen | |
| wie der Kurzarbeit und dem Kündigungsschutz. Die Zahl der Arbeitslosen | |
| sinkt zudem auch wegen des demographischen Rückgangs. | |
| Durch die Agenda 2010 gibt es im Gesamtvolumen nicht mehr Beschäftigung, | |
| sie wird jedoch auf mehr Köpfe verteilt. Das läßt sich an der Statistik | |
| ablesen: Die Zahl der Erwerbstätigen kletterte auf ein Rekordhoch von 41 | |
| Millionen. Das Gesamtvolumen der geleisteten Arbeitsstunden fiel hingegen | |
| vom Jahre 2000 bis zum Jahre 2010 von 57,7 auf 57,4 Milliarden | |
| Arbeitsstunden. | |
| Die neue soziale Frage ergibt sich also nicht mehr so sehr aus der Zahl der | |
| Arbeitslosen, sondern aus den Arbeitsbedingungen und Entgelten, die oft | |
| nicht für die Existenz- und Alterssicherung reichen. Die in den 90er Jahren | |
| oft beschworene "Arbeitsumverteilung" hat stattgefunden, nur zu | |
| unerfreulichen Bedingungen. | |
| Zur Jahrtausendwende, als die SPD auf der Suche nach der "Neuen Mitte" war, | |
| hatten viele Sozialdemokraten befürchtet, dass die erwerbstätigen Wähler | |
| einen weiteren Ausbau der Stützsysteme und Beschäftigungsmaßnahmen für | |
| Arbeitslose "kritisch auffassen" könnten, schreiben Hassel und Schiller. | |
| Danach setzte SPD-Kanzler Schröder die Agenda 2010 durch. Das Misstrauen | |
| gegenüber den Arbeitslosen ist jedoch geblieben, die Ressentiments zwischen | |
| den Unter- und Mittelschichtmilieus wurden durch die Hartz-Gesetze nicht | |
| entschärft. Im Gegenteil. | |
| 22 Feb 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Barbara Dribbusch | |
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