Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Rassistische Beschimpfungen: Nur Trauern reicht nicht
> In einer Berliner S-Bahn wurden Schüler als "Türkenpack" beschimpft.
> Niemand griff ein - auch nicht der Fahrer. Warum Mut wichtiger ist als
> Schweigeminuten.
Bild: Ihren Erfahrungen mit dem Rassismus wird nicht mit einer Schweigeminute a…
BERLIN taz | Drei politische Kommissionen, ein offizieller Trauerakt, eine
bundesweite Schweigeminute - das ist die Antwort Deutschlands auf den
rechtsradikalen Terror, den die sogenannte Zwickauer Nazizelle sechs Jahre
lang in ganz Deutschland ausübte.
All diese offiziellen Reaktionen sind wichtig und nötig. In der Berliner
S-Bahn, die sich an der Schweigeminute ebenfalls beteiligte, zeigte sich am
Montag jedoch: Dem Rassismus im Alltag wird immer noch nicht entschieden
genug begegnet.
Auf dem Weg zu einem Faschingsausflug wurde eine multikulturelle
Schulklasse einer Kreuzberger Grundschule von einem Mann beschimpft.
"Türkenpack, ab nach Auschwitz", rief er. Die Reaktion der dicht an dicht
stehenden Mitreisenden: Keine. In ihrer Verzweiflung wandten sich die
Klassenlehrer schließlich an den Zugführer, der allerdings auch nicht aktiv
werden wollte. Er verwies stattdessen auf die zuständige Bundespolizei.
Drei Tage später sagt Bundeskanzlerin Angela Merkel bei der zentralen
Gedenkveranstaltung für die Opfer des "Nationalsozialistischen Untergrunds"
in Berlin: "Demokratie lebt vom Hinsehen." Das stimmt.
## Halt nur bei Lebensgefahr
Eigentlich soll ein Zugführer der Deutschen Bahn in solchen Fällen den
Sicherheitsdienst benachrichtigen, damit die Personalien des Täters
aufgenommen werden können. "Klar ist, dass wir rassistische Beleidigungen
nicht dulden", sagt ein Sprecher der Berliner S-Bahn. Im Unterschied zu
anderen Unternehmen wie den Berliner Verkehrsbetrieben soll der Zug nach
den DB-Regeln allerdings nicht anhalten, solange keine Gefahr für Leib und
Leben besteht.
Diese Regelung ignoriert, dass verbale rassistische Übergriffe eine
sofortige Reaktion erfordern, die den Betroffenen das Gefühl geben, nicht
allein zu sein - und dem Täter zeigen, dass er nicht durchkommt mit seinem
Ausbruch.
Wie kommt ein Zugführer dazu, gar nicht auf den Fall einzugehen und
stattdessen auf formale Zuständigkeiten zu verweisen? Es ist das Bedürfnis
nach Strukturen, die Verantwortung festlegen und einen nicht dazu zwingen,
sich zu einem rassistischen Angriff persönlich zu verhalten.
## Alltagsrassismus in Berlin
Viel zu oft sieht die Zivilgesellschaft erst hin, wenn hochoffiziell
festgestellt ist, dass es sich um die Taten organisierter Neonazis handelt.
Wenn ein erwachsener Mann Kinder in der S-Bahn mit offensichtlich
rassistischen Parolen angreift, dann reicht das offenbar nicht aus. Jeder
Beobachter sollte doch eigentlich hinsehen, die Situation selbst bewerten.
Der Gedanke vom "ihr" und "wir" wird nicht nur von Rechten gedacht. Er
schimmert auch immer wieder innerhalb der breiten Bevölkerung durch -
nämlich dann, wenn junge Menschen mit Migrationshintergrund sich anders
verhalten als erwünscht: Ein junger Mann wechselt in Kreuzberg die
Straßenseite, um der laut herumalbernden Gruppe junger Türken auszuweichen.
Eine ältere Frau verbittet sich im Bus nach Neukölln laute Unterhaltungen
in einer anderen Sprache. Oft geht es da nicht um Ärger über eine einzelne
Personen, sondern über "diese Personen" im Allgemeinen.
Neben der Angst vor einem Übergriff durch den Täter mag im Fall der
Kreuzberger Schulklasse auch Ärger der Mitreisenden über die Schüler der
Grund dafür gewesen sein, dass sie schwiegen. Denn bereits zuvor hatte sich
eine Frau über die Kinder beschwert und sie angegriffen. Zusammen mit den
eigenen alltäglichen Sorgen, die jeder mit sich herumträgt, summiert sich
das schnell zu dem Entschluss, mit der ganzen Sache nichts zu tun haben zu
wollen und lieber nicht einzugreifen.
Wir können uns diese Gleichgültigkeit nicht leisten, vor allem, wenn wir es
mit der Trauer über die Taten des "NSU" und anderer Neonazis ernst meinen.
An einigen Stichtagen im Jahr in sich zu gehen, zu ein paar Gegendemos zu
fahren und ansonsten auf die zuständigen Behörden wie die Bundespolizei zu
vertrauen, das ändert nichts.
23 Feb 2012
## AUTOREN
Karen Grass
## TAGS
Schwerpunkt Schillerkiez in Berlin
## ARTIKEL ZUM THEMA
Polizeiliche Kontrollen in Zügen: Verdächtige Hautfarbe
Polizisten, die in der Bahn Kontrollen ohne konkreten Verdacht vornehmen,
können auch auf die Hautfarbe als Auswahlkriterium zurückgreifen. Ein
Gericht bestätigt jetzt diese Praxis.
Rassismusvorwurf in Bayern: Der geheime Humor der Polizei
In einem Kalender für bayerische Beamte lassen sich rassistische
Karikaturen ausmachen. Vielleicht verstehen wir da aber auch etwas nur
nicht.
Black History Month: Musik hat keine Hautfarbe
Unbeachtet von der Mehrheitsgesellschaft wird im Februar schwarze Kultur
auch in Deutschland zelebriert. Zum Beispiel von dem Sänger Arenor Anuku.
Neonazi-Helfer gesteht Waffenbeschaffung: Waffenlieferung an Terroristen
Neonazi-Helfer Carsten S. sagt aus, die Tatwaffe geliefert zu haben, mit
der das Zwickauer Trio neun Morde begangen hat. Davon habe er allerdings
nichts gewusst.
Gedenken an Neonazi-Mordopfer: "Ich bitte um Verzeihung"
Das Gedenken für die Opfer der Neonazi-Terrorzelle NSU hat begonnen.
Bundeskanzlerin Merkel entschuldigte sich bei den Angehörigen für falsche
Verdächtigungen durch die Ermittler.
taz-Serie Schillerkiez: Yo, du bist mein Kiez!
Im Mädchentreff Schilleria rappen junge Neuköllnerinnen über Schule und die
erste Liebe - aber auch darüber, dass Thilo Sarrazin mit seinen Thesen
unrecht hat.
Protest gegen Rassismus: Rathaus in Dessau besetzt
Weil sie den Alltagsrassismus satt haben, besetzten Aktivisten in Dessau
das Rathaus. Sie fordern mehr Distanzierung der Stadt von rassistischen
Demos.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.