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# taz.de -- taz-Serie Schillerkiez: Yo, du bist mein Kiez!
> Im Mädchentreff Schilleria rappen junge Neuköllnerinnen über Schule und
> die erste Liebe - aber auch darüber, dass Thilo Sarrazin mit seinen
> Thesen unrecht hat.
Bild: Rappen macht cool
Wer später mal eine gute Rapperin werden will, zieht sich vor dem Üben die
Schuhe aus. Ordentlich aufgereiht stehen zehn Paar Winterstiefel vor dem
Musikraum der Schilleria im Neuköllner Schillerkiez. Dieser Teil des Treffs
für Mädchen und junge Frauen ist schließlich mit grünem Teppich ausgelegt,
und der soll nicht schmutzig werden.
Sinaya Sanchis Calva sitzt an diesem Nachmittag mit den 12 und 13 Jahre
alten Mädchen auf schief gesessenen Plastikstühlen und bespricht die
Übungen des Rap-Workshops, den sie einmal pro Woche gibt. Statt mit
Rapperposen und Flüchen wird hier allerdings höflich und mit sanfter Stimme
miteinander gesprochen. Das Thema diesmal: der Schillerkiez. Einige aus der
Gruppe schreiben Stichwörter auf, die ihnen zu ihrem Viertel einfallen,
andere überlegen mögliche Reime. Später wird dann zusammen geprobt - denn
Rappen ist hier nichts für wütende Einzelgänger, sondern Teamwork.
Seit vier Jahren bietet Sanchis Calva den kostenlosen Workshop an. Die
28-Jährige gebürtige Mexikanerin lebt seit einigen Jahren im Schillerkiez.
Sie ist selbst als Rapperin erfolgreich, arbeitet in ihrer Freizeit
ehrenamtlich mit den Mädchen und studiert außerdem Musikmanagement. "Das
Rappen gibt den Mädchen die Möglichkeit, Erlebnisse aus ihrem Alltag zu
verarbeiten", sagt sie. Ob Familie, Jungs und Verliebtheit, Schulprobleme,
Rassismus oder auch Gewalt - alles, was die Mädchen bewegt, wird in Reime
verpackt. "Meist setzen wir uns zu Beginn der Stunde erst mal zusammen und
quatschen ein bisschen", sagt Sanchis Calva. "Daraus entsteht dann
irgendwann ein Rap."
Alvisa und Azahr, neun und zwölf Jahre alt, haben sich auf die
improvisierte Holzbühne im Musikraum zurückgezogen und versuchen
angestrengt und konzentriert, aus Reimwörtern die ersten Zeilen für ihr
Stück zu basteln. "Das ist der Schillerkiez, das ist meine Heimat", hat
Alvisa schon auf ihrem Zettel stehen. "Jetzt kannst du von Heimat auf
Reimart kommen", hilft Sanchis Calva. "Weißt du, was Reimart ist?" Das
Mädchen mit den langen Haaren und dem Stickpullover druckst ein wenig
herum. Dieses Nachfragen, das ist ja wie in der Schule! "Ich glaube, meine
Art, zu reimen", meint sie schließlich, Sanchis Calva nickt.
Seit drei Jahren kommt Alvisa regelmäßig in den Club. "Die Schilleria ist
wie mein zweites Zuhause", sagt sie. "Wir treffen uns zum Reden, Kochen und
Musikmachen, und wir putzen hier sogar." Zum Rap-Workshop hat sich das
ruhige Mädchen erst im vergangenen Herbst das erste Mal getraut: "Ich
dachte, Rappen sei zu schwer für mich. Aber eigentlich kann ich es schon
ganz gut." Eine Erkenntnis, die Alvisa offenbar einen so großen Schub an
Selbstvertrauen versetzt hat, dass sie sich zum zehnten Geburtstag des
Mädchentreffs letzten November schon mit einem Geburtstags-Rap auf die
Bühne getraut hat - allein.
Azahr dagegen ist heute das erste Mal dabei. "Der Schillerkiez is für mich
wie eine Grose Rose", steht neben vielen Reimwörtern in krakeliger Schrift
auf ihrem Blatt. "Der Takt stimmt. Aber achte mal auf die Rechtschreibung:
Kannst du "Grose" anfassen?", fragt Sanchis Calva. Neben Taktgefühl und
Problembewältigung integriert sie in ihren Kurs auch Deutschunterricht:
"Natürlich verbessere ich die Fehler", sagt Sanchis Calva, "das gehört
einfach dazu."
Nicht alle Rapperinnen der Schilleria sind so brav wie Alvisa und Azahr.
Mit mehr Selbstbewusstsein, aber auch mit mehr Schminke und tieferen
Ausschnitten ausgerüstet, stehen etwa die vier Mitglieder von "The Funky
Soldierz" mittlerweile regelmäßig auf Berliner Bühnen. Schon seit vier
Jahren werden die 16- und 17-Jährigen von Sanchis Calva im Rappen
unterrichtet, und damit gehören sie zu den Älteren, die an diesem Samstag
nicht beim Workshop dabei sind. Die "Funky Soldierz" sind schon in der
Philharmonie und im Abgeordnetenhaus aufgetreten, für ihr Lied "Eine
verbotene Liebe - Laura und Haifa" wurden sie vom Lesben- und
Schwulenverband Deutschland zu Respektbotschafterinnen ernannt.In diese
Gruppe lassen sich die Anfängerinnen nur schwer integrieren.
"Mit den Kleinen machen wir deshalb gerade einen Neustart", sagt Daniela
Rohleder. Die junge Frau mit den kurzen, blonden Haaren leitet die
Schilleria, die auch jenseits der Rap-Workshops für viele Mädchen im Kiez
ein wichtiger Anlaufpunkt ist, wie sie erzählt: "Bei uns gibt es
Antirassismusprojekte und Nachhilfe, wir helfen bei der
Ausbildungsplatzsuche und spielen Theater. Und natürlich kann man auch
einfach kommen, um Freundinnen zu treffen und abzuhängen."
Gestemmt wird das Angebot von 20 Ehrenamtlichen aus ganz Berlin - von den
einst sechs fest angestellten Mitarbeitern ist nur noch Rohleder übrig, das
Geld für die übrigen wurde gestrichen. "Wir bekommen noch einen
Grundfinanzierung vom Bezirk und haben darüber hinaus private Spender",
sagt die Leiterin. Aus der Nachbarschaft gebe es zudem ab und zu
Sachspenden. Natürlich sei es toll, dass die Schilleria so viel Hilfe
bekomme. "Trotzdem wollen wir den Bezirk nicht aus seiner Pflicht
entlassen, Projekte wie unseres zu fördern."
Etwa 30 Mädchen und junge Frauen aus dem Kiez sind Stammgäste in der
Schilleria, "fast alle haben Migrationshintergrund", sagt Rohleder. Die
Herkunftsländer seien sehr unterschiedlich - von der Türkei über Pakistan
bis Indonesien. "Konfliktpotenzial ergibt sich daraus aber nicht", sagt
sie. Auch wenn die Kleinen in vielen Aspekten des Rap noch ziemlich
unerfahren sind: Die Sache mit dem Respekt, die haben sie längst
verstanden.
Seit einiger Zeit gibt es noch eine ganz andere Gruppe von Zuwanderern im
Kiez: Die Gentrifizierung spült Studenten, Künstler und Biomarktbesucher
zunehmend auch südlich des Hermannplatzes an. "Den Kleinen ist das noch
nicht so bewusst, aber die Großen merken schon, dass sich in ihrem Kiez
etwas ändert", sagt Rohleder.
Damit aus diesem Wissen nicht irgendwann Vorbehalte gegen die neuen
Bewohner, die die alten verdrängen, entstehen, setzt man in der Schilleria
auf Kennenlernen: Gemeinsame Projekte des Jugendclubs etwa mit einem neu
angesiedelten Kinderbuchverlag oder einem Secondhandladen sollen da helfen.
"Wir versuchen, in unserer Arbeit von den Veränderungen zu profitieren,
statt pauschal auf die Gentrifizierung zu schimpfen", sagt Rohleder.
Eines der Mädchen, die mitbekommen haben, dass sich in ihrem Kiez etwas
tut, ist die 14-jährige Shaima. Immer öfter zögen Freunde weg, weil die
Mieten zu hoch würden, erzählt sie. "Außerdem gibt es weniger Stress im
Kiez - das merkt man schon." Auch Shaima scheint mit ihrem langen, braunen
Haaren und der sanften Stimme nicht unbedingt dem Klischee einer Rapperin
zu entsprechen - sie ist auch aus Versehen in den Workshop geraten, als
Sanchis Calva sie einmal in der Schilleria vor sich hin singen hörte. "Du
bist im Recall, hat sie damals zu mir gesagt", erzählt Shaima. Recall, das
ist für jeden Castingshowteilnehmer das Zauberwort dafür, dass er es in die
nächste Runde geschafft hat. Seit einem halben Jahr ist Shaima nun dabei.
Für Shaima ist Rappen nur eine andere Form des Gesangs. "Man braucht viel
Rhythmusgefühl", sagt sie. Zudem mag sie das Spiel mit der Sprache und die
Möglichkeit, seine Gedanken in Liedern zu verpacken. "Die Funky Soldierz
haben im letzten Jahr einen Song gegen Thilo Sarrazin und seine Thesen
gemacht", sagt Shaima. "So was finde ich schon super."
Noch traut man ihr und ihren jungen Mitstreiterinnen zwar eher einen
Popsong über die erste Liebe denn einen harten Rap über
Parallelgesellschaften zu. Aber noch sind sie ja in der Übungsphase. Da ist
der Schillerkiez eben eher eine "Grose Rose" als "mein Block" - und die
Rapperinnen ziehen artig die Schuhe aus, wenn ein Teppich im Übungsraum
liegt.
15 Feb 2012
## AUTOREN
Juliane Wiedemeier
## TAGS
Schwerpunkt Schillerkiez in Berlin
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