| # taz.de -- Brustimplantate: Stützen, quetschen, pressen, polstern | |
| > Sich schöne Brüste machen zu lassen ist dasselbe wie sich gesund zu | |
| > ernähren. Sind Frauen Opfer der Konsumgesellschaft oder folgen sie bloß | |
| > dem Pfad der Evolution? | |
| Bild: Das Dekolleté als wichtigster Blickfänger. | |
| Mal wieder Dekolleté zeigen. Begehrt werden. Sich als Frau fühlen. Weltweit | |
| tragen schätzungsweise 10 Millionen Frauen schon Brustimplantate in sich, | |
| allein in Deutschland kommen jährlich 25.000 Frauen hinzu. | |
| Die Diagnose scheint klar: Abgesehen von den medizinisch notwendigen Fällen | |
| sind die betreffenden Frauen Opfer von Körperkult und Schönheitswahn. Sie | |
| sind Beute des männlichen Blicks, der definiert, wie frau auszusehen hat. | |
| Diese kulturkritische Sicht, die in der Konsum- und Mediengesellschaft den | |
| Feind gefunden zu haben glaubt, wird bisweilen ergänzt durch therapeutische | |
| Ratschläge. | |
| Nachdem die taz mehrfach über Skandale im Bereich der Brustvergrößerung | |
| berichtet hatte, schrieb eine Leserin auf taz.de: „Müssten die Mädels, die | |
| sich freiwillig unters Messer legen, nicht zur/m akademischen | |
| LebenshelferIn um die Ecke?“ | |
| Derlei Zuschriften gibt es viele, sie stehen für eine | |
| Psychopathologisierung der Frauen, die sich die Brüste aufbessern lassen. | |
| Und implizieren eine Norm des Gesunden, des „Natürlichen“: Sei so, wie du | |
| bist, und gib dich zufrieden. Was aber, wenn man den Körper nicht als | |
| gottgegeben hinnimmt? Sondern ihn als Baustelle betrachtet? Und was, wenn | |
| die Arbeit auf dieser Baustelle so etwas wie die Fortsetzung der sexuellen | |
| Evolution mit anderen Mitteln ist? | |
| ## Evolution eines Alleinstellungsmerkmals | |
| Die permanent entwickelte Brust haben nur die Menschenfrauen, kein anderes | |
| Tier kann damit aufwarten. Wie kam es zu einem solchen | |
| Alleinstellungsmerkmal? | |
| Brüste und Lippen sind eine Kopie der Pobacken und der Schamlippen. | |
| Begonnen hat alles mit dem aufrechten Gang. Seitdem begegnen sich Mann und | |
| Frau von Angesicht zu Angesicht. Das veränderte auch den Sex. Es wird nicht | |
| mehr von hinten aufgesprungen. Standard ist seither die Frontalstellung. | |
| Um die Aufmerksamkeit auf die Vorderseite des weiblichen Körpers zu lenken, | |
| könnte so etwas wie Mimikry eingesetzt haben. Äffinnen signalisieren mit | |
| angeschwollenen Pobacken und Schamlippen Lust und Kopulationsbereitschaft. | |
| Beim Übergang zur aufrechten Face-to-Face-Kommunikation hat es eine | |
| Duplizierung der hinten befindlichen Blickfänger gegeben. | |
| Diese Erklärung verdanken wir Desmond Morris, dem berühmten Zoologen und | |
| Verhaltensforscher. Sein Bestseller „Der nackte Affe“ erzählt uns diesen | |
| Kopiervorgang als eine Erfolgsgeschichte der sexuellen Selektion. | |
| Alles Mythen, sagt die Anthropologin Gillian Bentley. Die Menschen seien | |
| besessen von der Brust als sexuellem Objekt. Der Grund für deren Expansion | |
| sei ein ganz praktischer: Der Nachwuchs der meisten Primaten hat einen | |
| vorstehenden Kiefer, was ein komplikationsloses Nuckeln an der flachen | |
| Brust ermöglicht. Da das Gesicht des Menschen in der Evolution verflacht | |
| sei, hätten sich dafür die Brüste vorgewölbt – damit der Säugling beim | |
| Säugen nicht erstickt. Warum aber, könnte man fragen, stehen die Brüste | |
| dann dauerhaft hervor, auch zu Zeiten, wo kein Nachwuchs zu stillen ist? | |
| Vielleicht gibt es gar keinen Grund. Brüste hätten weder einen symbolischen | |
| noch einen funktionellen Wert, sagt die US-Erfolgsautorin Natalie Angier. | |
| Sie seien aus purem Zufall entstanden, „bloße Staffage.“ Die es dann | |
| allerdings in sich hat. Gerade weil sie funktionslos sei, würde sie uns so | |
| schön erscheinen. „Form follows function“ gilt hier nicht. Der Mensch habe | |
| eine Vorliebe für das Runde, das Kurvige – und die Brust erweise am | |
| offensichtlichsten dem Kreis seine Reverenz. Zudem biete die von Fell und | |
| Haaren befreite Haut der Inszenierung der Kurven eine einzigartige Bühne. | |
| Die nackte Haut hatte schon Darwin gefeiert – als ein fantastisches | |
| Resultat einer Entwicklung, in der über die Verstärkung von Differenzen | |
| ästhetische Gewinne verbucht werden. Der Mensch ist zwar der nächste | |
| Verwandte des Schimpansen, 98 Prozent unserer Gene stimmen mit seinen | |
| überein. Aber nicht erst seit heute ist unser Bild von der schönen Frau | |
| denkbar weit entfernt vom Look des Affen. Wenn Frauen sich die Beine | |
| epilieren, betonen sie diesen Unterschied immer wieder. Wer nicht rasiert, | |
| verliert. | |
| ## Die schöne Landschaft der glatten Oberfläche | |
| Erst die glatte, weiche Oberfläche macht die Brüste zur schönen Landschaft. | |
| Sie füttern aber nicht nur das Begehren des anderen Geschlechts. Sie | |
| täuschen auch noch. Im Unterschied zu den anderen Primaten ist bei | |
| Menschenfrauen die Phase der Fruchtbarkeit verhüllt – und die Schwellung | |
| des Busens auf Dauer gestellt. | |
| Wie Winfried Menninghaus in seinem Buch „Das Versprechen der Schönheit“ | |
| nicht ohne Freude an der „hintergründigen Ironie“ der Natur bemerkt hat, | |
| ermöglicht das den Frauen mehr Freiheit zu „unerlaubten“ Paarungen. Und da | |
| die Frau – von außen gesehen – jederzeit fruchtbar sein und schwanger | |
| werden kann, muss der Mann, um seinen Reproduktionserfolg einigermaßen | |
| sicherzustellen, treu sein. Was dann auch dem parental investment – kurzer | |
| Exkurs: jegliche Form der Investition in Nachkommen, die die Möglichkeit | |
| ausschließt, in andere Nachkommen zu investieren – zugutekommt. | |
| Menschenkinder brauchen besonders lange die Hilfe der Eltern. | |
| So wurden in der sexuellen Evolution durch Wahl nach Schönheit | |
| Gestaltunterschiede zwischen den Geschlechtern verstärkt, womit uns aus | |
| archaischen Zeiten folgendes Muster überliefert wurde: schmale Hüfte, | |
| breite Schultern, viel Muskeln, kaum Fett (Mann); weniger Muskeln, mehr | |
| Fett, an den oft so beraunten „richtigen Stellen“: Pobacken, Hüfte, Brust | |
| (Frau). Daher die Sanduhrfigur, das Ideal 90-60-90. | |
| Die Schönheitsindustrie beutet dies aus. Manche meinen: gnadenlos, weil | |
| durch Massenmedien globale Leitbilder produziert werden, denen kaum zu | |
| entkommen ist. Sie zeigen dir, wie du aussehen könntest, theoretisch. Das | |
| erzeugt auch ein riesiges Frustrationspotenzial – die meisten schaffen es | |
| eben nicht. Mit einer ungeheuren Dynamik verstärken Medien und | |
| Schönheitsindustrie die schon von Darwin beobachtete Tendenz zu leichter | |
| Übertreibung der „Ornamente“. Die Extremistin dieser Übertreibung ist die | |
| Barbie-Puppe. | |
| Eine Frau mit den Proportionen von Barbie – die erste Puppe hatte die Maße | |
| 99-46-84 – hätte Atemprobleme, Osteoporose und wäre unfruchtbar. Damit | |
| befindet sie sich schon jenseits dessen, was durch sexuelle Evolution | |
| überhaupt möglich gewesen wäre. | |
| Die sexuelle Evolution hat der Mensch mithilfe von Intelligenz und | |
| technischer Adaption an veränderte Umwelten schon früh hinter sich | |
| gelassen. Das Gesetz der Schönheitswahl, wie es im Tierreich herrscht, gilt | |
| nicht mehr. Eigentlich. Denn zugleich ist unser Begriff vom schönen Körper | |
| überraschend stabil geblieben; man schaue sich nur Statuen aus der Antike | |
| an. Dem ist nicht zu entkommen, weil wir darüber nicht willentlich | |
| verfügen. Diese Erbschaft unserer biologischen Evolution können wir nicht | |
| ausschlagen. Wir sind auf Schönheit geeicht. | |
| Arbeit am Körper in ihrer milden Form – Sport treiben, gesund ernähren, | |
| rasieren und epilieren – wäre so als Versuch zu sehen, nicht zu stark von | |
| diesem Ideal abzuweichen. Sich die Brüste neu machen zu lassen ist | |
| prinzipiell nichts anderes. | |
| Wegen der Kosten und der Risiken einer Operation tun dies weniger Frauen. | |
| Es sind aber immer noch so viele, dass sie die Sonderstellung der Brust | |
| markieren – die ohnehin der Körperteil ist, mit dem die Frau auch ohne | |
| Skalpell – so Natalie Angier – am meisten arbeiten kann: hochstützen, | |
| zusammenquetschen, vorpressen, auspolstern. | |
| 5 Mar 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Stefan Mahlke | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Feministischer Kampftag | |
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