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# taz.de -- Soziologe über Italien: "Dies ist ein wahnsinniges Land"
> Der italienische Soziologe Nando Dalla Chiesa über Straffreiheit für
> Berlusconi, Montis Chancen, Wulffs Lappalien und den moralischen Spread.
Bild: "Lange vor Berlusconi hatte Italiens Politik ein gebrochenes Verhältnis …
taz: Herr Dalla Chiesa, Berlusconi ist wieder mal davongekommen – der
Prozess gegen ihn wegen Bestechung eines Rechtsanwalts wurde wegen
Verjährung eingestellt. In seinem Lager wird das als Sieg gewertet. Mit ein
wenig Abstand beurteilt: Freuen sich die Berlusconi-Jünger zu Recht?
Nando Dalla Chiesa: Das sind die, die auch gefeiert haben, als ein enger
Vertrauter Berlusconis zu „nur“ fünf Jahren verurteilt wurde. Dies ist ein
wahnsinniges Land, in dem selbst rechtskräftig Verurteilte gefeiert und
auch noch als Verfolgte einer politisierten Justiz hingestellt werden. Auch
jetzt stehen wir vor dem gleichen Phänomen – wie vor einigen Jahren schon,
als Giulio Andreotti davonkam. Damals stellte das Gericht fest, dass er
über Jahre hinweg mit der Mafia im Bund gewesen war – dass die Straftat
jedoch verjährt war. Es gibt bei uns keinerlei Respekt mehr für den Sinn,
für den Inhalt von Urteilen. Was heißt denn Verjährung? Dass da effektiv
eine Straftat begangen wurde.
Juristisch also ein klarer Unterschied gegenüber einem Freispruch.
Ebenden hat Berlusconi nicht erhalten: Dass das Gericht ihn nicht
freisprach, zeigt, dass es von seiner Schuld überzeugt ist.
In Italien heißt es aber immer, es gebe bei der Bewertung solcher Urteile
nicht bloß die „juristische“, sondern auch die „politische Ebene“. Und…
dieser stelle der letzte Richterspruch ein „Unentschieden“ zwischen
Berlusconi und den Staatsanwälten, ja ein „salomonisches Urteil“ dar.
Was soll hier „salomonisch“ heißen? Das Gericht hat keineswegs
festgehalten, dass beide Seiten – Berlusconi und die Staatsanwälte – gleich
dastehen. Es hat die Schuld des Angeklagten festgestellt, die aber leider
keine Strafe mehr nach sich zieht, übrigens weil Berlusconi selbst als
Regierungschef ein Gesetz zur Verkürzung der Verjährungsfrist durchgedrückt
hat.
Wieso gibt es überhaupt diese feinsinnigen Unterscheidungen zwischen
„juristisch“ und „politisch“?
Weil die Politik in Italien sich von der Ethik abgekoppelt hat. Wenn
Berlusconi ein Verbrechen begangen hat, dafür aber nicht mehr bestraft
werden kann, bleibt dennoch das ethische Problem – die Politik jedoch
erklärt, dieses ethische Problem gebe es gar nicht. Ein Politiker sei nur
dann rechenschaftspflichtig, wenn eine Verurteilung durch die Justiz
erfolgt sei. Normal wäre es, wenn die Leute jetzt sagten, „was für eine
Schande, er ist davongekommen, weil er sich selbst die Verjährungsfrist
verkürzt hat“. Stattdessen wird jetzt die Einstellung des Prozesses so
behandelt, als sei da seine Unschuld festgestellt worden. Die Politik hat
ein System konstruiert, in dem der moralische Kompass abgeschafft ist.
Ist das ein Erbe der Berlusconi-Jahre?
Berlusconi hat vieles zugespitzt. Aber schon lange vorher hatte die
italienische Politik ein gebrochenes Verhältnis zur Legalität; es scheint,
als sei das die Erbsünde unserer Politik.
Sie erwähnten den Christdemokraten Giulio Andreotti, bis 1992 siebenmal
Italiens Ministerpräsident.
27-mal wollte die Justiz gegen ihn ermitteln, 27-mal lehnte das Parlament
die Aufhebung seiner Immunität ab.
Anderswo treten Staatspräsidenten zurück, wenn gegen sie
Ermittlungsverfahren eröffnet werden.
Es war bezeichnend, wie die Affäre Wulff in Italien kommentiert wurde. Da
hieß es im Corriere della Sera, seht mal, auch die anderen haben Probleme
mit der Legalität, deshalb sollen uns die Deutschen gefälligst mit ihren
Predigten verschonen. Der kleine Unterschied: Wulff trat umgehend zurück,
wegen Geschichten, die hier bei uns als Bagatelle durchgegangen wären.
Sie sprachen vom schwierigen Verhältnis italienischer Politiker zur
Legalität. Hilft ihnen nicht auch die tiefe Spaltung der italienischen
Gesellschaft?
Gewiss. Die Italiener gehen auch Berlusconis Justizprobleme an, als seien
sie Tifosi – dafür oder dagegen. Das rührt daher, dass wir es nicht
schaffen, den Staat über die Parteien zu stellen. Bei uns waren es die
Parteien, die nach der Resistenza gegen Hitler und Mussolini von 1945 an
die Republik gründeten und danach immer ihr Primat gegenüber dem Staat
reklamierten. Auch bei den Bürgern verankerte sich kein tiefer Staatssinn.
Hinzu kommt, dass ein Gutteil der Gesellschaft sich in Berlusconi gerade
dann widerspiegelt, wenn ihm illegale Machenschaften vorgeworfen werden.
Der Steuerhinterzieher, der Unternehmer, der zu Bestechung greift: Sie
identifizieren sich mit dem „verfolgten“ Berlusconi.
Jetzt ist Mario Monti am Ruder. Ändert sich etwas auf diesem Feld?
Zunächst einmal hat das ganze Land aufgeatmet, dass Berlusconi weg war. Ich
selbst fühle mich als Italiener von Monti repräsentiert – von jemandem, der
auch international respektiert ist. Ich weiß jedoch nicht, ob die Italiener
insgesamt die neue Qualität dieser Regierung wirklich verstehen werden. Ein
Teil der Rechten scheint weiterhin keinerlei Reue für die Berlusconi-Jahre
zu empfinden. Auf der Linken dagegen heißt es oft, Monti sei ja bloß
Statthalter der Banken – und da gerät schnell ins Vergessen, dass wir vor
Monti Berlusconi hatten und dass auch nach Monti Berlusconi zurückkehren
könnte. In diesem Land kann alles geschehen, wir haben ja schon gesehen,
dass es keine Grenze für die Schande gibt. Italien braucht zuerst und vor
allem – jenseits von rechts und links – eine Regierung, die Anstand zeigt.
Nicht umsonst sprechen ja italienische Kommentatoren auch von einem
„moralischen Spread“, den das Land schließen müsse.
Monti ist in der Lage, diesen Spread zu verkleinern. Doch Monti agiert
nicht allein, er findet sich in einem politischen System. In einem System,
in dem viele Akteure sich durch Verhaltensweisen auszeichnen, die weitaus
gravierender sind als die des ehemaligen deutschen Bundespräsidenten. Bei
uns gibt es die Kultur des Rücktritts nicht. Hier ist der Staat eine Sache,
die man benutzt. Wir haben durchaus sehr viele treue Diener des Staates –
aber eben auch viele, die sich des Staates bedienen. Und mein Eindruck ist,
dass diese zweite Gruppe stärker ist.
11 Mar 2012
## AUTOREN
Michael Braun
## TAGS
Nachruf
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