# taz.de -- Italienischer Sozialarbeiter über die Mafia: „Weniger Tote, grö… | |
> Seit zwei Jahren klärt ein Museum in Kalabrien über die Mafia auf. Haben | |
> die Bosse Angst vor Zivilcourage? Der Museumschef über die Morde von | |
> Duisburg im Jahr 2007. | |
Bild: „Es wundert mich nicht, dass in Deutschland eine folkloristische Sicht … | |
taz: Herr La Camera, vor zwei Jahren trafen wir uns schon einmal, weil Sie | |
seinerzeit das Museum über die ’Ndrangheta eröffnet haben. Und wie damals | |
interessiert mich: Wie betreibt man ein Mafia-Museum mitten im Mafia-Land? | |
Claudio La Camera: Zunächst mal: Das Museum gibt es noch. Und dann haben | |
wir alle Ziele erreicht, die wir uns gesetzt hatten. Also: Die Kenntnis des | |
Phänomens ’Ndrangheta hat sich deutlich erhöht, es gibt heute eine ganz | |
andere Kultur des Wissens. Es hat sich eine enge Zusammenarbeit entwickelt | |
zwischen staatlichen Institutionen, Schulen und Universitäten. Und drittens | |
haben wir es dieses Jahr geschafft, das Museum als tatsächlichen | |
Ausstellungsort fertigzustellen. Dem allem steht entgegen, dass die | |
politischen Spannungen in unserer Region deutlich zugenommen haben – und | |
dies in einer Phase, in der sich die Situation auch auf nationaler Ebene | |
verschlechtert hat. | |
Verschlechtert? War das Ende Berlusconis nicht eine Befreiung? | |
Wir haben alle den Fall der Regierung Berlusconi begrüßt, schon deswegen, | |
weil es einfach mal möglich schien, dass sich überhaupt was ändert. Derzeit | |
sehen wir das aber nicht. Wir befürchten vielmehr eine Reorganisation | |
derjenigen großen Interessengruppen der italienischen Politik, die unser | |
Land seit mindestens 15 Jahren unter ihre Kontrolle gebracht und zum | |
Stillstand verurteilt haben. Und spätestens nächstes Jahr wird in Italien | |
gewählt: Da sehen wir absolut nichts Neues, keine neue politische Kultur, | |
keine neuen Leute. | |
’Ndrangheta – ist das inzwischen ein Wort, das offen ausgesprochen wird in | |
Kalabrien? | |
Es hat sich da viel getan – aber es hat eben auch Jahre gedauert. Man kann | |
das Wort ’Ndrangheta inzwischen aussprechen, aber ihre soziale Basis ist | |
noch sehr stark. Und vor allem sind große Teile der politischen und | |
pseudointellektuellen Elite noch immer der Ansicht, dass man weniger über | |
die ’Ndrangheta sprechen sollte als über all die schönen Dinge hier. | |
Das magische Kalabrien aus der Tourismuswerbung. | |
Der Tourismus ist nur ein Vorwand. Darunter liegt das, was wir „Graue Zone“ | |
nennen. Also ein geheimes Einverständnis mit der ’Ndrangheta. Die | |
Geschichte der Anti-Mafia-Bewegung lehrt, dass es diese Art von Kumpanei | |
und Leugnung immer gegeben hat – in den Institutionen, den Geheimdiensten, | |
unter den Intellektuellen, bei vielen einfachen Leuten. Aber wir alle | |
werden nicht schöner, wenn wir nur über die schönen Seiten Kalabriens | |
reden. | |
Wie reagiert denn die ’Ndrangheta auf die Offensive gegen sie – sei es von | |
Ihnen im Museum, das sich ja in der beschlagnahmten Villa eines Bosses | |
befindet, sei es seitens der Justiz und der Polizei? | |
Die Bosse diskutieren darüber, das dokumentieren erst kürzlich abgehörte | |
Gespräche. Sie sagen, wir müssen aufpassen, dass wir nicht den Konsens bei | |
den einfachen Leuten verlieren. Früher, sagen sie, wurden wir respektiert, | |
heute werden wir nur noch gefürchtet. Das Problem ist aber, dass die | |
Physiognomie der Mafia heute vielschichtig ist, intellektuell, | |
unternehmerisch. Und auf diesem Niveau kann sie auf repressive und | |
kulturelle Offensiven ganz anders reagieren. Sie hat unendlich viel Geld, | |
sie ist viel mächtiger als wir, sie ist schneller. | |
Wie gefährlich ist das, was Sie und ihre Mitarbeiter im Museum machen? | |
Wir sind ständig in Gefahr. Das ist klar, das kann dort, wo wir uns | |
bewegen, nicht ausbleiben. Das eigentliche Problem ist aber die | |
Unberechenbarkeit. An einem Tag wird uns ganz traditionell gedroht; am | |
nächsten Tag ist es der Versuch, uns moralisch zu delegitimieren; dann | |
bezahlt man Journalisten, die einen persönlich angreifen. Eines ist sicher: | |
Die atavistische Gewalt ist das letzte Mittel, weil sie wissen, das sie das | |
am wenigsten Effiziente ist. Denn damit ziehen sie Aufmerksamkeit auf sich. | |
Das heißt, in Reggio brennen keine Autos mehr? | |
Viel weniger als vor zwei Jahren. Und ich habe zuletzt auch in Deutschland | |
immer wieder betont – anlässlich der Aufdeckung der Nazimorde der NSU –, | |
dass unsere Erfahrung in Italien uns eines lehrt: Ein kriminelles Phänomen, | |
das starke kulturelle Wurzeln hat, kann man nicht an der physischen Gewalt | |
und auch nicht an der Zahl der Toten messen. Wir haben die bittere | |
Erfahrung machen müssen, dass die Bedrohung durch das organisierte | |
Verbrechen gewachsen ist, seit es weniger primitive Gewalt, seit es weniger | |
Tote gibt. | |
Das müssen Sie erklären. | |
Die Hauptgewalt hat sich immer innerhalb der Mafien abgespielt. Die beiden | |
’Ndrangheta-Kriege hier in Kalabrien zwischen den 1970er und 1990er Jahren | |
mit über 1.000 Toten waren Auseinandersetzungen zwischen den | |
’Ndrangheta-Zellen, den sogenannten „Cosche“. Und dann nehmen wir das | |
Beispiel Mexiko: Die mächtigsten Drogenkartelle dort haben die blutigen | |
Metzeleien hinter sich gelassen. Sie brauchen das nicht mehr, sie sind | |
schon an der Macht, sie sind der Staat, sie sind die Leitkultur. Rohe | |
Gewalt kennzeichnet immer nur die Einstiegsphase der organisieren | |
Kriminalität. Noch der korrupteste Staat muss auf Gewalt gegen seine Bürger | |
eine Antwort geben – auf Unterwanderung und Staatsterrorismus hingegen | |
nicht. | |
Die ’Ndrangheta ist also mächtiger geworden, weil sie heute weniger | |
Schläger und Mörder stellt als Rechtsanwälte, Businessleute und | |
Architekten? | |
Ja – und zwar weltweit. Die Tatsache, dass hier in Reggio kürzlich | |
Staatsanwälte, Polizisten und Priester verhaftet wurden, weil sie mit der | |
’Ndrangheta zumindest verbandelt waren – ein juristischer Schlüsselbegriff | |
ist hier „Kollusion“ –, das zeigt nur, dass wir immer hintendran sind. | |
Warum soll man einen engagierten Staatsanwalt umbringen, wenn man in seiner | |
Leibwache jemanden hat, der einen über jeden seiner Schritte auf dem | |
laufenden hält? Kürzlich wurde hier ein Anti-Mafia-Marsch für einen | |
Dorfbürgermeister organisiert, weil auf ihn ein Bombenattentat verübt | |
wurde. Nun, wir wissen, dass dieser Bürgermeister zur ’Ndrangheta gehört. | |
Ich glaube, dass nur ein kleiner Teil der Attentate echt sind. | |
In Deutschland spricht man über die ’Ndrangheta erst seit den sogenannten | |
Mafiamorden von Duisburg – 2007 wurden dort sechs Menschen erschossen. Wie | |
nehmen Sie die deutsche Diskussion wahr? | |
Wir haben schon in Kalabrien und im Rest Italiens Probleme, über die | |
’Ndrangheta aufzuklären. Es wundert mich also nicht, dass in Deutschland | |
eine folkloristische Sicht vorherrscht. Das Hauptproblem ist, dass in | |
Zeiten der ökonomischen Krise kein Staat Zustände und Strukturen aufdecken | |
will, die für einen quasi unbegrenzten Geldzufluss sorgen. | |
Wie müssen wir uns denn die aktuellen Mafiaaktivitäten in Deutschland | |
vorstellen? | |
Sehr interessant sind die polizeilichen Ermittlungen, vor allem die Namen, | |
die sich in den Akten des Prozesses „Cent’ anni di storia“ [Hundert Jahre | |
Geschichte – Anm. der Red.] 2011 in Reggio finden. Sie belegen die | |
Verbindung zwischen den Mafia-Zellen, die Italiens zweitgrößten Seehafen in | |
Gioia Tauro kontrollieren, Deutschland und Russland. Diese Informationen | |
wurden aber beim Prozess nicht verwendet. Falls jemand wirklich wissen | |
will, was die Mafien in Deutschland machen, der musste vor 30 Jahren dem | |
Kokain folgen und heute dem Fluss des Geldes. Wo kommt es her, wie wird es | |
investiert? Das macht aber niemand. Wir müssen nicht in Erfahrung bringen, | |
ob es eine Familie mit einem bestimmten Nachnamen, einen Clan also, in | |
Deutschland gibt, denn wir wissen längst, wer in Stuttgart oder Frankfurt | |
sitzt. | |
Wie sieht die Zukunft des Museo della ’Ndrangheta aus? | |
Das Museum ist die wichtigste beschlagnahmte Immobilie der Mafia in Reggio, | |
und die einzige, die wirklich einem sozialen Zweck zugeführt wurde, die als | |
Institution funktioniert. Wir machen Ärger, weil wir weiter in die Tiefe | |
gehen, in die eben beschriebene „Graue Zone“. Viele Bürger der Stadt | |
unterstützen uns. Aber ob es uns in einem halben Jahr noch gibt? Ich weiß | |
es nicht. | |
22 Mar 2012 | |
## AUTOREN | |
Ambros Waibel | |
## TAGS | |
Mafia | |
Mannheim | |
Mafia | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Politiker über die italienische Mafia: „Das Spektakel muss aufhören“ | |
Francesco Forgione über korrupte italienische Eliten, Kampagnen gegen die | |
Anti-Mafia-Bewegung und die Nachwehen des Berlusconismus. | |
Ausstellung über Mafiaorganisationen: Mannheim, Mord und Montechiaro | |
In Mannheim läuft eine beeindruckende Fotoausstellung über italienische | |
Mafiaorganisationen. Nur eines fehlt: die Spuren der Mafia in Mannheim. | |
Razzia gegen 'Ndrangheta-Geldwäscher: Mafia macht in Windkraft | |
Bundesweit wird mit einer Razzia gegen die kalabrische Mafia ermittelt. Es | |
geht unter anderem um Beteiligungen an Windparks. Auch die HSH Nordbank | |
wurde durchsucht. | |
Stadtrat in Reggio Calabria aufgelöst: 'Ndrangheta unterwandert Regierung | |
Erstmals wurde die Regierung einer Provinzhauptstadt in Süditalien wegen | |
Verbindungen zur Mafia aufgelöst. Auch im Norden des Landes gab es | |
Festnahmen. | |
Anti-Mafia-Anwältin: „Im Mafioso ist keine Sanftheit“ | |
Vincenza Rando ist eine der prominentesten Anwältinnen Italiens. Sie | |
vertritt Frauen, die Mafiosi verlassen. Ein Schritt, den die Frauen | |
mitunter mit dem Leben bezahlen. | |
Italiens Lega Nord: Saubermänner nicht mehr sauber | |
Dem Schatzmeister der italienischen Lega Nord werden Betrug und | |
Unterschlagung vorgeworfen. Mit Parteigeld sollen Villen und Autos bezahlt | |
worden sein. | |
Debatte Italien: Alter, go home! | |
Die Berlusconi-Generation 50+ hat das Land zum Absturz gebracht. Wer eine | |
neue Arbeits- und Lebenswelt will, muss sie zum Teufel jagen. | |
Internationale Sportwettenmafia: „Wir wollen an die Finanziers heran“ | |
Von Katar aus soll nun die internationale Wettmafia verfolgt werden. Die | |
Dimensionen sind gigantisch. Doch es geht auch ums Geschäft. | |
Soziologe über Italien: "Dies ist ein wahnsinniges Land" | |
Der italienische Soziologe Nando Dalla Chiesa über Straffreiheit für | |
Berlusconi, Montis Chancen, Wulffs Lappalien und den moralischen Spread. |