# taz.de -- Rot-grüne Minderheitsregierung in NRW: Aus Versehen am Ende | |
> Eigentlich lief es gut für die rot-grüne Koalition in | |
> Nordrhein-Westfalen. Doch wegen eines Versehens ist ihre Regierungszeit | |
> nun abrupt am Ende. | |
Bild: Die Politstrategen hatten einen rechtlichen Haken nicht bedacht, was zum … | |
KÖLN taz | High Noon im Düsseldorfer Landtag. Am Mittwoch um 12.04 Uhr geht | |
außerplanmäßig Hannelore Kraft zum Redepult. „Die Bürgerinnen und Bürger | |
haben den Anspruch zu wissen, woran sie bei den Fraktionen sind“, sagt die | |
Ministerpräsidentin mit getragener Stimme. Eine Entscheidung stehe an, „die | |
kann Ihnen, jedem Einzelnen, niemand abnehmen“, ruft sie den Abgeordneten | |
zu. Nicht „taktische Spielchen“, sondern „klare Kante“ sei angesagt. | |
Formal geht es nur um eine Frage, von der bis Dienstag auch Kraft noch | |
glaubte, sie wäre eigentlich weitgehend irrelevant: die zweite Lesung über | |
die einzelnen Posten des Landeshaushalts 2012. Doch inzwischen wissen alle | |
Abgeordneten, dass es um weit mehr geht: um das Schicksal eines spannenden | |
Politexperiments. | |
„Sollte jetzt der Einzelplan des Innenministeriums keine Mehrheit finden, | |
werde ich die Koalitionsfraktionen bitten, einen Antrag auf Selbstauflösung | |
des Landtags zu stellen, um damit Neuwahlen einzuleiten“, kündigt Kraft an. | |
Dann müssten die Bürgerinnen und Bürger entscheiden. „Es geht um viel: Es | |
geht um das Wohl unseres Landes Nordrhein-Westfalen“, schließt sie | |
pathetisch ihre kurze Ansprache. | |
Zwanzig Monate regierte Krafts Minderheitsregierung aus SPD und Grünen mit | |
wechselnden Mehrheiten im bevölkerungsreichsten Bundesland. Mit der | |
Linkspartei schafften sie die Studiengebühren ab, mit der CDU machten sie | |
einen „Schulkonsens“ und mit der FDP vereinbarten sie einen „Stärkungspa… | |
für die finanziell Not leidenden Kommunen. Es lief eigentlich ganz gut. | |
Dabei war der rot-grünen Koalition aufgrund der einen Stimme, die ihr zur | |
eigenen Mehrheit fehlt, seit ihrer Inthronisierung im Juli 2010 in schöner | |
Regelmäßigkeit ein vorzeitiges Ende prophezeit worden. Dass sie | |
ausgerechnet jetzt eher aus Versehen, denn aus politischem Kalkül platzt, | |
damit hatte jedoch ernsthaft niemand gerechnet. Zu komfortabel schien die | |
Ausgangsposition. Nachdem ihr beim Etat 2011 noch die Linkspartei per | |
Enthaltung über die Klippe geholfen hatte, signalisierte diesmal die FDP | |
Gesprächsbereitschaft. | |
## Ein fintenreicher Plan | |
Von Existenzängsten getrieben, hatte sich deren Fraktionsvorsitzender | |
Gerhard Papke ein vermeintlich pfiffiges Prozedere ausgedacht: Bei der | |
zweiten Lesung sollte seine Fraktion zwar noch gegen die Einzelpläne des | |
Etats stimmen. Aber nur, um anschließend bis Ende März in Verhandlungen der | |
Regierung ein paar Einsparungen abzutrotzen und letztlich in der | |
entscheidenden dritten Lesung den Gesamthaushalt passieren zu lassen. So | |
hätte die FDP Neuwahlen geschickt verhindern und sich gleichzeitig als | |
Sparkommissar in Szene setzen können. | |
SPD und Grünen gefiel der fintenreiche Plan, weswegen sie sich bereits für | |
Montag mit Papke verabredet hatten. Die Linkspartei ließen sie dafür | |
diesmal links liegen ließen. Wenn’s mit den Freidemokraten doch nicht | |
klappt, könne man ja immer noch als stille Reserve auf sie zurückgreifen, | |
so die Überlegung von Rot-Grün. | |
Leider hatten die Politstrategen einen rechtlichen Haken nicht bedacht: | |
Findet ein Einzelplan in der zweiten Lesung keine Mehrheit, gilt der | |
gesamte Haushalt als abgelehnt. Die dritte Lesung wäre dann Makulatur. Am | |
Dienstag informierte die Landtagsverwaltung die Fraktionen über diesen | |
Fall, den es in Nordrhein-Westfalen zuvor noch nie gegeben hatte. Damit | |
stand vor allem die FDP in der Sackgasse. Sie hatte sich schwer verzockt. | |
Ohne Gesichtsverlust konnte sie nicht mehr den Rückweg antreten. | |
Aber auch die verprellte Linkspartei konnte in der Kürze der Zeit nicht | |
mehr runter von ihrer Ablehnungshaltung und manövrierte sich damit | |
ebenfalls ins Abseits. Sie habe stets signalisiert, „einen Haushalt | |
passieren zu lassen, der wenigstens ein Stück weit für ein soziales und | |
ökologisches Nordrhein-Westfalen sorgt“, sagte deren Fraktionschef Wolfgang | |
Zimmermann verbittert in Richtung Rot-Grün. „Aber Sie haben die Hand | |
ausgeschlagen.“ | |
## Das Schicksal besiegelt | |
Die Konsequenz der Verweigerung verkündet um 12.45 Uhr die stellvertretende | |
Parlamentspräsidentin Carina Gödecke (SPD): In namentlicher Abstimmung | |
stimmten die 90 rot-grünen Abgeordneten für den Etat des Innenministeriums, | |
91 Parlamentarier von CDU, FDP und Linkspartei geschlossen dagegen. Auf | |
Antrag der SPD wird daraufhin die Sitzung unterbrochen. Jeder weiß: Damit | |
ist das Schicksal der Minderheitsregierung besiegelt – und wohl nicht nur | |
das ihre. | |
Um 17.16 Uhr beschließt der Landtag einstimmig seine Auflösung. Jetzt muss | |
es binnen sechzig Tagen zur Neuwahl kommen. Der Landtagsopposition dürfte | |
der Sturz von Rot-Grün weitaus teurer zu stehen kommen als SPD und Grünen. | |
Glaubt man den aktuellen Meinungsumfragen, liegt die CDU zwar mit 35 | |
Prozent der Stimmen weiterhin gleichauf mit der SPD. | |
In der Beliebtheitsskala liegt allerdings Ministerpräsidentin Kraft weit | |
vor CDU-Landeschef Norbert Röttgen, ihrem mutmaßlichen Herausforderer. Die | |
Linkspartei mit drei und die FDP mit zwei Prozent müssen damit rechnen, bei | |
den Neuwahlen hochkant aus dem Landtag zu fliegen. | |
Da bleiben nur noch Durchhalteparolen: „Überzeugung ist wichtiger als | |
Mandatssicherung“, versucht der eilends nach Düsseldorf gereiste NRW-FDP | |
Daniel Bahr seiner Partei Mut zu machen. Auch wenn die Piratenpartei mit 5 | |
Prozent den Einzug schaffen sollte, würde Rot-Grün dank der 17 Prozent für | |
die Grünen hingegen über eine stabile absolute Mehrheit im Parlament | |
verfügen. Wahrscheinlicher Wahltermin ist der 6. oder 13. Mai. | |
14 Mar 2012 | |
## AUTOREN | |
Pascal Beucker | |
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