# taz.de -- Wahl des Bundespräsidenten: Frau Genc und Herr Gauck | |
> Der neue Bundespräsident Joachim Gauck will Menschen mit der Politik | |
> zusammenführen. Mevlüde Genc macht vor, wie Versöhnung funktioniert. | |
Bild: Mevlüde Genc hofft, dass Joachim Gauck keine Unterschiede zwischen den M… | |
BERLIN taz | Als Joachim Gauck seine Dankesrede beginnt, sitzt Mevlüde Genc | |
im Plenum des Bundestages. Sie versucht, zu fühlen, was das neue | |
Staatsoberhaupt sagt. Denn die 69-Jährige versteht nur wenige Worte der | |
Rede. Und niemand ist gerade in der Nähe, der ihr den Text übersetzen | |
könnte. | |
Aber sie hat Gauck in den vergangenen zwei Tagen mehrfach getroffen. In der | |
Fraktionssitzung der Union. Am Eingang des Reichstagsgebäudes. Im | |
Plenarsaal. Sie hat gehört, dass er seine Zuhörer zum Lachen bringen kann. | |
Und deshalb mag sie, was er sagt. | |
Seit Sonntag, kurz vor halb drei, ist Joachim Gauck ganz offiziell gewählt. | |
991 Stimmen hat er bekommen. Auch die von Mevlüde Genc, der Wahlfrau der | |
CDU. Gauck ist nun der Nachfolger von Christian Wulff. Er steht vor der | |
Aufgabe, die Kluft zwischen Politik und Bevölkerung nach den zahlreichen | |
politischen Affären seines Vorgängers wieder zu verkleinern. Er muss | |
versöhnen. Und auf Menschen treffen, die ihm versöhnlich gegenüberstehen. | |
Herr Gauck braucht Menschen wie Frau Genc. | |
Der CDU-Landesverband Nordrhein-Westfalen hat sie aufgestellt, um ein | |
Zeichen zu setzen für die Belange der Migrantinnen und Migranten. Bei dem | |
Brandanschlag in Solingen 1993 hat Mevlüde Genc zwei Töchter, zwei | |
Enkelinnen und eine Nichte verloren. Rechtsradikale hatten ihr Haus | |
angezündet. Das Ereignis liegt nun schon 19 Jahre zurück. Und doch kann es | |
niemand in Deutschland vergessen. | |
## Die Mörder sieht sie als Einzeltäter | |
Genc musste alles als Betroffene erleben. Sie hätte allen Grund, | |
Deutschland zu hassen. Aber das tut sie nicht. Stattdessen hat sie nach der | |
Tat die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen und begonnen, sich gegen | |
Fremdenfeindlichkeit zu engagieren. Die Mörder ihrer Kinder sieht sie als | |
Einzeltäter: „Das trenne ich von meinem Deutschlandbild“, sagt Genc. Sie | |
bekam das Bundesverdienstkreuz. Und an diesem Sonntag wählt sie mit ihrer | |
Stimme Joachim Gauck zum Bundespräsidenten. | |
Die Arbeit als Delegierte beginnt für sie am Samstagnachmittag. Vom Hotel | |
in Berlin-Mitte wird sie zum Reichstagsgebäude gebracht, dort trifft sie | |
mit ihrem Mann auf CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe. „Toll, dass Sie da | |
sind“, sagt Gröhe. Der CDU-Politiker Bülent Arslan begleitet Genc, | |
übersetzt für sie die Worte Gröhes. | |
Am Fahrstuhl im Reichstagsgebäude trifft sie zufällig auf Joachim Gauck - | |
sie sieht ihn zum ersten Mal. Der kommt auf sie zu, gibt ihr die Hand. Erst | |
als er direkt vor ihr steht, erkennt sie ihn, erzählt sie später. „Ich habe | |
kein großes politisches Wissen“, sagt sie, „ich kannte Gauck bisher noch | |
gar nicht.“ | |
Dann sitzt sie im Konrad-Adenauer-Haus beim Empfang der Union an einem | |
Tisch neben der Bühne und hört Angela Merkels Rede zu. Genc hat an ihr | |
Oberteil den weißen Delegiertenausweis mit der Aufschrift „15. | |
Bundesversammlung“ geheftet. Auf der Bühne redet Merkel von den Verdiensten | |
des Exbundespräsident Christian Wulff und holt die Spitzenkandidaten für | |
die kommenden Landtagswahlen zu sich. Ein bisschen Wahlkampf muss sein, | |
auch vor einer überparteilichen Wahl. | |
## Streit um die Sitzordnung | |
## | |
Als das Pflichtprogramm beendet ist, steuert die Kanzlerin auf Genc zu, | |
fragt, wie es geht. Sie könne leider nicht so gut Deutsch, „aber meine | |
Kinder und Enkel können alle die Sprache sprechen“, sagt Genc. „Na, dann | |
haben Sie doch alles Wichtige für Ihre Kinder und Enkel getan“, freut sich | |
Merkel. Die Fotoapparate klicken. | |
Es rührt sie, erzählt Genc am Rande der Bundesversammlung, dass so viele | |
Menschen auf sie zukommen. So sei das auch an Jahrestagen des | |
Brandanschlags. „Es gibt mehr Beileidsbekundungen von Deutschen als von | |
Türken“, sagt sie. „Das finde ich schön.“ | |
Vor der Bundesversammlung gab es einen Streit um die Sitzordnung im | |
Plenarsaal - es ging um die Platzierung von Genc und den drei Wahlmännern | |
der NPD. Die Union wollte auf keinen Fall, dass die Rechtsextremen in Genc | |
Nähe sitzen. Doch auch die anderen Fraktionen wollten die NPDler nicht um | |
sich haben. Die Situation schien verfahren. Gelöst wurde das Problem, indem | |
Mevlüde Genc einen der besten Plätze bekam, einen Sitz in Reihe fünf. Nur | |
eine Reihe hinter Generalsekretär Gröhe. Schön weit vorne. Doch auch so | |
weit vorne, dass kein Übersetzer in ihrer Nähe sitzen konnte. | |
Hat sie an die NPDler gedacht, die sich im selben Raum befanden? Nein, sagt | |
sie, und fügt hinzu: „Ich wünsche mir, dass Allah sie auf den richtigen Weg | |
bringt.“ | |
## Wulff war der erste Präsident, der ihre Sorgen wahrnahm | |
Mevlüde Genc gibt sich an diesem Sonntag versöhnlich - selbst gegenüber | |
denen, die sie wahrscheinlich am liebsten nicht in diesem Land sehen | |
würden. Wenn Joachim Gauck das Volk wieder an die Politik heranführen, dann | |
kann er sich auf Bürgerinnen wie Mevlüde Genc verlassen. Sie machen vor, | |
wie es geht. | |
Das ist nicht selbstverständlich, denn wenn sein Vorgänger Christian Wulff | |
sich Verdienste erworben hat, dann durch sein Engagement für die | |
Migrantinnen und Migranten in Deutschland. Für sie war Wulff der erste | |
Präsident, der ihre Nöte und Sorgen wahrnimmt. | |
Genc sagt über Wulff: „Wir haben ihn besonders respektiert wegen seiner | |
Zuneigung zu den Migranten.“ Viele Verbände der Migrantinnen und Migranten | |
fürchteten, dass nach Wulff das Thema Integration wieder an Bedeutung | |
verliert. | |
Kann Gauck für sie überhaupt an die Leistung Wulffs herankommen? „Ich will, | |
dass Gauck von allen respektiert wird“, sagt Mevlüde Genc. Dann formuliert | |
sie eine Erwartung: „Ich wünsche mir, dass der neue Bundespräsident keine | |
Unterschiede zwischen den Menschen macht.“ Schließlich fügt sie noch ein | |
türkisches Sprichwort hinzu: „Er soll für jede Wunde eine Salbe haben.“ | |
Als Gauck am Sonntagnachmittag im Plenum vor das Mikrofon tritt um seine | |
erste Rede zu halten, greift er diesen Gedanken auf. Er richte sich an | |
„Menschen die schon lange und erst kurz in diesem Land leben“, sagt der | |
neue Präsident. Er wolle die Bevölkerung „mit der Politik zusammenführen�… | |
Zum Abschluss der Bundesversammlung spielt ein Blasorchester die deutsche | |
Nationalhymne. Mevlüde Genc steht auf und reiht sich ein in die singenden | |
Delegierten. Sie versteht auch diesen Text nicht ganz. Aber sie hat wieder | |
ein Gefühl. Aus ihrer Sicht ist dieser Tag ein guter Beginn für die | |
Präsidentschaft von Joachim Gauck. | |
18 Mar 2012 | |
## AUTOREN | |
Gordon Repinski | |
## TAGS | |
Beate Klarsfeld | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Gauck als Bundespräsident vereidigt: Vertrauen, Freiheit, Chancengleichheit | |
Willkommen als Präsident im "Land des Demokratiewunders": Joachim Gauck hat | |
seinen Amtseid abgelegt und seine erste Grundsatzrede vor Bundesrat und | |
Bundestag gehalten. | |
Gauck in Bellevue: Mit Herzklopfen im Amt | |
Nun ist er eingezogen: Bundespräsident Joachim Gauck hat seine | |
Amtsgeschäfte übernommen und äußert „Respekt“. Die ersten offiziellen | |
Termine stehen auch schon an. | |
Kommentar Bundespräsident Gauck: Gauck, der Schüler | |
Der neue Bundespräsident hat in seiner Antrittsrede deutlich gemacht, dass | |
er lernen will. Dafür verdient er Respekt. | |
Beate Klarsfeld in der Bundesversammlung: Ein stummes Hosianna im Bundestag | |
Beate Klarsfeld bekommt bei der Wahl des Bundespräsidenten drei Stimmen | |
mehr als erwartet. Während der Abstimmung strahlt sie Gelassenheit aus. | |
Bundesversammlung hat gewählt: Gauck ist Bundespräsident | |
Überraschung: Joachim Gauck ist zum 11. Bundespräsidenten des Landes | |
gewählt worden. Der Theologe erhielt 991 Stimmen. „Was für ein schöner | |
Sonntag“, sagte das neue Staatsoberhaupt. | |
Gaucks verzerrtes Geschichtsbild: Der Rückfall | |
Der Leiter des Simon Wiesenthal Centers in Jerusalem erklärt, warum er | |
Gauck für den falschen Bundespräsidenten hält. Es geht um dessen Deutung | |
des Holocausts. |