# taz.de -- Film „Take Shelter“: Er zückt das ganz große Messer | |
> "Take Shelter" ist der zweite Film des jungen US-amerikanischen | |
> Regisseurs Jeff Nichols. Er verschränkt ein Psychodrama mit Motiven des | |
> Horrorkinos. | |
Bild: Michael Shannon: in „Take Shelter“ von Albträumen geplagt. | |
Apokalyptische Visionen haben Konjunktur im Kino. Lars von Trier lässt in | |
„Melancholia“ die Welt in erlesener Opulenz untergehen, der New Yorker | |
Haudegen Abel Ferrara hält in „4:44 Last Day on Earth“ dem Schrecken des | |
Untergangs den nackten Hintern seiner Hauptdarstellerin Shanyn Leigh | |
entgegen, und in Béla Tarrs „Turiner Pferd“ erstarren sogar die Holzwürmer | |
im Gebälk, bevor das letzte Kerzenlicht verlischt. | |
Auch Jeff Nichols, ein 1978 im US-Bundesstaat Arkansas geborener | |
Filmemacher, der 2007 für sein Debüt, die Western-Modernisierung „Shotgun | |
Stories“, zu Recht viel Beachtung fand, liebäugelt in seinem neuen Film | |
„Take Shelter“ mit dem Weltenende. | |
Im Mittelpunkt des Films steht ein Mann um die 30, Schauplatz ist ein | |
kleiner Ort in Ohio. Eigentlich könnte der Protagonist zufrieden sein, denn | |
er hat ein reizendes Haus, eine reizende Frau und eine reizende Tochter, | |
außerdem eine Stelle bei einem Unternehmen, das Bausand gewinnt. Doch | |
dieser Curtis (Michael Shannon) wird von Albträumen heimgesucht. Ein Sturm | |
zieht auf, gelber Regen fällt in Strömen, Menschen und Tiere werden | |
aggressiv, später verdunkeln Schwärme schwarzer Vögel den Himmel, noch | |
später klatschen sie tot auf der Straße auf. B | |
is zu einem gewissen Grad haben solche Schreckensvisionen durchaus einen | |
realen Kern: Die Wirbelstürme im Inneren der USA werden durch den | |
Klimawandel tatsächlich unberechenbarer und gefährlicher, und viele | |
Menschen, die sich wie Curtis in typischen Blue-Collar-Jobs verdingen, | |
haben in der Subprime-Krise ihr Haus und damit die Grundlage ihrer Existenz | |
verloren. Was der Protagonist von „Take Shelter“ fürchtet, ist also nur zum | |
Teil Produkt einer übersteuerten Imagination. | |
Weder der Hausarzt noch die Therapeutin können verhindern, dass Curtis’ | |
Albträume in seinen Alltag einsickern. Aus Angst baut er den unterirdischen | |
Schutzraum in seinem Garten aus. Nachdem sein Hund ihn im Traum angefallen | |
hat, sperrt er ihn in einen Zwinger im Garten, und wenn ihn ein Freund und | |
Kollege im Traum bedroht, sorgt er dafür, dass der Mann nicht länger in | |
seinem Team arbeitet. | |
## Hochsommerliches Ambiente | |
„Take Shelter“ hat ein schönes Gespür für das hochsommerliche Ambiente in | |
dieser ländlichen Gegend, für die hohen Bäume und das flache Land, für den | |
Schweiß auf der Haut von Curtis, für seine sandigen Hemden und die feuchte | |
Erde des Gartens. Wie der Film das Psychodrama seines Protagonisten | |
entfaltet und um Elemente des Horrorfilms ergänzt, ist bemerkenswert, | |
ebenso wie das, was Michael Shannon, als Darsteller auf selbstquälerische | |
Typen kapriziert, aus seiner Figur herausholt: Überzeugend legt er Curtis | |
als einen Mann an, der kaum einen Begriff von psychischen Prozessen hat, | |
der voller Angst ist und zugleich allen anderen Angst einjagt. | |
Die tiefe Religiosität der Figuren wird unaufdringlich und ohne eine Spur | |
von Denunziation in Szene gesetzt, diese Zurückhaltung verhindert aber | |
nicht, dass sich Verbindungslinien zwischen dieser sanften Allgegenwart der | |
christlichen Religion und den apokalyptischen Visionen des Protagonisten | |
erkennen lassen. | |
Nichols’ Gabe, mit und in Bildern zu erzählen, zeigt sich immer wieder, | |
etwa in den Match Cuts, bei denen sich Bewegung und Geräusche einer | |
Einstellung nach dem Schnitt leicht moduliert in der nächsten Einstellung | |
fortsetzen, oder in einer Albtraumszene, in der die durchnässte, | |
leichenbleiche Ehefrau Samantha (Jessica Chastain) wie ein Gespenst in der | |
Küche steht. In der Spüle, am rechten Bildrand, liegt ein Messer, es ist | |
nicht besonders groß, wer nicht drauf achtet, sieht es nicht. | |
Das Gefühl der Bedrohung nimmt zu, ohne dass etwas geschähe, schließlich | |
bewegt sich Samantha einen Schritt nach links, und der Blick wird frei auf | |
das viel größere Brotmesser, das auf der Anrichte liegt. Einerseits hat das | |
kleine, unauffällige Messer die Zuschauer auf den Anblick des großen | |
Messers vorbereitet. Andererseits steckt eine große Überraschung in dem | |
Bild, da man annehmen musste, die Bedrohung gehe vom kleinen Messer aus. | |
„Take Shelter“ ist stark, solange der Film in der Schwebe lässt, ob Curtis… | |
Visionen Produkt seiner Paranoia sind oder ob die Apokalypse tatsächlich | |
bevorsteht. Umso bedauerlicher, dass Nichols in den letzten Minuten dann | |
doch das ganz große Messer zückt und mit einem seltsam hypertrophen Ende | |
eine eindeutige Entscheidung fällt. | |
21 Mar 2012 | |
## AUTOREN | |
Cristina Nord | |
Cristina Nord | |
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Spielfilm | |
Kinofilm | |
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