# taz.de -- Kindheit in Bolivien: In der Schule des Verbrechens | |
> Antony Guzmán ist zehn, er hat nichts verbrochen. Trotzdem wächst er im | |
> Knast mit Vergewaltigern und Mördern auf. Ein Besuch in einem | |
> Gefängnisdorf. | |
Bild: Die einfach zusammengezimmerten Häuser in Palmasola müssen die Gefangen… | |
SANTA CRUZ taz | Wo Antony lebt, gibt es einen Fußballplatz, Läden, | |
Restaurants und gleich mehrere Kirchen. Es ist ein kleines Dorf, eng, viele | |
Menschen, wenig Platz. Außen herum führen zwei Mauern, sechs Meter hoch, | |
obendrauf Stacheldraht. Die Mauern und die 14 Wachtürme sind der Grund | |
dafür, dass es das Dorf überhaupt gibt. | |
Antony, zehn Jahre alt, ist ein schmächtiger Junge mit kurzen, schwarzen | |
Haaren. Wenn man ihn fragt, wie es ist, hier zu wohnen, zuckt er mit den | |
Schultern. Er kennt nichts anderes. Er lebt im Gefängnis, seit er drei ist. | |
Antony wächst im Gefängnisdorf Palmasola auf. Es liegt ein Stück außerhalb | |
der Stadt Santa Cruz im tropischen Tiefland Boliviens. Vor etwas mehr als | |
20 Jahren wurden die Mauern hochgezogen, Gefangene eingesperrt, der Rest | |
hat sich so ergeben. Rund 3.000 Männer und Frauen sitzen hier ein – und | |
mehrere hundert Kinder. Denn viele Gefangene bringen ihre Familie einfach | |
mit. Wie viele Kinder in Palmasola leben, weiß niemand. Es gibt keine | |
Statistik über dieses ungeplante Sozialexperiment, das die Frage aufwirft: | |
Was wird aus Kindern, die in einer Umgebung aufwachsen, die für sie absolut | |
ungeeignet ist? | |
Viele Häftlinge sind Drogenschmuggler, aber auch Betrüger befinden sich | |
unter den Gefängnisinsassen, Räuber, Vergewaltiger, Mörder. Manche | |
arbeiten, zum Beispiel in einer Holzwerkstatt, andere haben nichts zu tun. | |
Die Wachmänner zählen nur zweimal am Tag nach, ob alle da sind. Was sonst | |
in dem Dorf passiert, ist ihnen ziemlich egal. | |
Die Männer, die durch die Gassen laufen, tragen kurze Hosen und | |
Plastikschlappen. Manche schauen einen mit leeren Augen an. Palmasola wirkt | |
wie eine Filmkulisse, in der die Komparsen darauf warten, dass der Dreh | |
endlich losgeht. Aber er geht nie los. Und es ist kein Film, sondern | |
Wirklichkeit. | |
## Der Schulleiter hofft | |
Morgens, kurz nach halb acht kann Antony dieser Wirklichkeit für ein paar | |
Stunden entfliehen; als Kind ist ihm das erlaubt. Er läuft ein Stück die | |
Mauer entlang, schlüpft durch eine Gittertür, am Müllhaufen vorbei über die | |
Wiese, schließlich durch das Rolltor aus Metall. Nun ist es nicht mehr | |
weit. Die Schule der Gefängniskinder steht gleich auf der anderen Seite der | |
Mauer. Ein quadratischer, dreistöckiger Betonklotz mit Flachdach, an vielen | |
Stellen blättert die Farbe ab. | |
Die Holztür des Klassenraums der vierten Klasse steht offen, Antony sitzt | |
in der ersten Reihe, die Kinder tragen Schuluniform. Mit weit aufgerissenen | |
Augen malt Antony die Buchstaben von der Tafel ab. Er habe die schönste | |
Handschrift von allen, lobt ihn die Klassenlehrerin. | |
Ein paar Zimmer weiter hat Jaime Rodríguez Navia sein Büro. Der Schulleiter | |
ist Anfang 40 und trägt ebenfalls Schuluniform, nur ein paar Nummern | |
größer. Nichts sei gut im Gefängnis, sagt er und ist sich trotzdem sicher: | |
„Die Kinder, die hier zur Schule gehen, werden nicht kriminell.“ Das ist | |
optimistisch gedacht, aber vielleicht ergibt die Arbeit an einer | |
christlichen Privatschule nur so Sinn. Sie heißt „Esperanza viva“ – | |
„lebendige Hoffnung“. | |
Es klingelt, die Schule ist aus, viele Kinder bleiben noch. Sie hüpfen | |
herum, lachen, rutschen eine Rutsche herunter. Antony kauft sich ein | |
Wassereis, sein Klassenkamerad Denis klettert auf einen Baum. Aber dann | |
müssen sie zurück ins Gefängnis. „Los, beeilt euch, Kinder“, sagt der | |
Polizist am Eingang und schiebt das Tor hinter ihnen zu. | |
## Videospiele kann Antony sich nur selten leisten | |
Das Gefängnisdorf ist eine kleine eigene Welt. Abgetrennt vom Leben | |
draußen, und trotzdem dringen vor allem die schlechten Dinge hier hinein. | |
Antony kann sich im Gefängnisdorf frei bewegen, er läuft am Fußballplatz | |
vorbei ins Zentrum. „Hier gefällt es mir am besten“, sagt er. Gern zockt er | |
Videospiele, aber das kann er sich nur selten leisten. Deshalb spielt er an | |
diesem Nachmittag mit Freunden Murmeln. Ein paar Meter weiter stehen Männer | |
und rauchen „Pitillo“, eine Droge aus Kokainbase, ähnlich wie Crack. Der | |
nächste Kick kostet einen Boliviano, 10 Cent, weniger als eine Cola. | |
Es ist im Gefängnisdorf genauso einfach, an Drogen zu kommen wie an Waffen. | |
Wachleute schmuggeln den Stoff, oder Kinder werden als Kuriere benutzt, | |
denn die werden nicht wie die anderen Besucher kontrolliert. Einige Bosse | |
geben aus dem Gefängnis heraus per Handy Befehle an ihre Handlanger. Wie | |
können Kinder hier behütet aufwachsen? | |
Können sie nicht, sagt Ruth Parapaino. Sie ist Psychologin in Hogar de la | |
Esperanza, einem von mehreren privaten Kinderheimen in Santa Cruz, die | |
speziell für die Gefängniskinder da sind. Sie sagt es nicht so explizit, | |
sie spricht von Abwägung und dem Wohl des Kindes. Aber im Grunde findet | |
sie, dass die Regierung es verbieten müsste, dass Gefangene ihre Familien | |
mit ins Gefängnis nehmen. Sie weiß, dass es den Kindern nicht gut tut. | |
Manche Kinder, die aus dem Gefängnis ins Heim ziehen, machen ins Bett, | |
berichtet die Psychologin. Andere können nicht ordentlich sprechen, einige | |
sind drogenabhängig. Die Kinder prügeln sich häufig, ihr Lieblingsspiel ist | |
„Räuber und Gendarm“. Alle Kinder wollen immer die Räuber sein. Denn die | |
Polizisten sind die Bösen, sie haben ja ihre Eltern eingesperrt. | |
## Lieber im Heim | |
Marilín lebte einige Zeit mit ihrem Vater im Gefängnis. Sie ist erst elf, | |
aber sie spricht über „die Kinder“ in der dritten Person, wie eine | |
Erwachsene. Reflektiert und abgeklärt. Sie hat keine gute Erinnerungen an | |
ihre zwei Jahre in Palmasola. Von den Männern wurde sie angemacht, | |
irgendwann hat sie das Zimmer kaum noch verlassen. Sie weiß von anderen | |
Kindern, die geschlagen wurden oder gar sexuell missbraucht. „Es eine | |
komische Sache, dass Kinder im Gefängnis wohnen“, sagt Marilín. „Hier im | |
Heim ist es besser für sie.“ | |
Warum dürfen die Kinder überhaupt mit hinter die Mauern? Von offizieller | |
Seite heißt es, es sei doch gut und förderlich, wenn die Gefangenen Frau | |
und Kinder um sich haben. So sieht es auch Antonys Vater: „Das Wichtigste | |
ist doch, dass die Familie zusammen ist.“ Er ist ein schlanker Mann, | |
tätowiert, vier Ringe an der linken Hand. Zu 15 Jahren wurde er verurteilt, | |
Raub, Bandenkriminalität, Vergewaltigung. Aber er habe sich gebessert, sagt | |
er. Er ist jetzt gläubig und geht in die Kirche. | |
Antony wohnt mit seinen Eltern und seiner zwei Jahre älteren Schwester | |
Daniela in einem Verschlag, vielleicht zehn Quadratmeter groß; zum Schlafen | |
steigen sie eine Leiter hoch in den zweiten Stock. Antonys Vater hat 500 | |
US-Dollar dafür an den Vorbesitzer bezahlt. Unten ist ein kleiner Laden, | |
dort verkaufen sie Dinge, die man so braucht: Limonade, Öl, Klopapier. Und | |
sie vermieten DVD-Player und DVDs; das ist ein gutes Geschäft, weil vielen | |
abends langweilig ist. | |
„Es gibt keine andere Lösung, als hier zu wohnen“, sagt Antonys Mutter – | |
sonst sagt sie nicht viel. „Früher war es schlimmer“, sagt der Vater. Seit | |
ein paar Jahren gibt es einen abgeschlossenen Bereich für die | |
gefährlichsten Verbrecher. Und es gibt die „Disciplina“, die Gefangenen, | |
die sich rote Leibchen überziehen und als Sicherheitstrupp für Ordnung | |
sorgen sollen. Schon länger sei keiner mehr umgebracht worden, bemerkt | |
Antonys Vater. | |
Neben dem Fußballplatz steht ein junger Mann mit schiefem Blick, er trägt | |
ein Poloshirt mit „La Coste“-Aufdruck, das einmal orange war. Iván heißt | |
er, 17 Jahre alt, und sein Schicksal ist keine Ausnahme. Iván ist in | |
Palmasola aufgewachsen und kam als Häftling zurück. | |
## Über Nacht in der Kirche | |
Iván schlingt die mit Hühnchen gefüllten Teigtaschen herunter, die er sich | |
selbst nicht hätte leisten können. Normalerweise hat er nur den Fraß aus | |
der Gemeinschaftsküche. Als er acht Jahre alt war, berichtet er, | |
schmuggelte sein Vater fünf Kilo Kokain und landete im Gefängnis. Iván, | |
seine Mutter und sechs Geschwister gingen mit. Iván begann mit zwölf, | |
Pitillo zu rauchen, in die Schule haben ihn die Eltern nicht geschickt. Als | |
er wieder draußen war, begann seine eigene kriminelle Karriere. Er brach | |
ein, klaute Fernseher und DVD-Player, wurde erwischt – seit sieben Monaten | |
wartet er auf seinen Prozess. Die meisten Häftlinge sitzen in Palmasola | |
ohne Urteil ein, laut einer Schätzung sind es 70 Prozent. | |
Iváns Eltern haben ihn bisher weder besucht, noch schicken sie Geld. Das | |
ist ein Problem, denn wer im Gefängnisdorf kein Geld hat, um sich ein | |
eigenes Zimmer zu mieten, der muss meist auf der Straße schlafen. Iván hat | |
Glück gehabt: Er hat in einer der Kirchen Unterschlupf gefunden. | |
Im Vergleich dazu geht es Antony und seiner Schwester gut. Ihrem Vater ist | |
es wichtig, dass sie einmal einen guten Beruf finden und nicht „in die | |
gleiche Falle tappen“. Daniela weiß auch schon, was sie werden will: | |
Tierärztin. Antony hat noch keine Idee. Aber er geht ja auch noch ein paar | |
Jahre auf die Schule, draußen, jenseits der Mauer. | |
Antonys Vater wird vielleicht bald vorzeitig entlassen. Richtig froh | |
darüber wirkt er nicht. Vielleicht sollten sie lieber bleiben, sagt er. | |
Schließlich verdient er hier Geld, sie zahlen keine Miete. Und Wasser und | |
Strom, sagt Antonys Vater, seien im Gefängnis immerhin umsonst. | |
22 Mar 2012 | |
## AUTOREN | |
Sebastian Erb | |
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