Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Nach den Attentaten von Toulouse: Stimmenfang per Schuldzuweisung
> Mohamed Merah war den Geheimdiensten schon lange bekannt und wurde
> überwacht. Haben die französischen Sicherheitsbehörden versagt?
Bild: Einschussloch in der Windschutzscheibe eines parkenden Autos vor Mohamed …
PARIS taz | Wie die französische Regierung möchte auch die Zeitung Le
Figaro voller Befriedigung einen Schlusspunkt hinter die dramatischen
Ereignisse von Toulouse setzen: „Mission accomplie“ (Mission erfüllt) steht
in großen Lettern auf der ersten Seite.
Gleich nach dem tödlichen Ausgang der Terroristenjagd auf Mohamed Merah
hatten nicht nur Staatspräsident Nicolas Sarkozy und sein Innenminister
Claude Géant, sondern auch Oppositionssprecher wie der Sozialist François
Hollande den Polizei- und Nachrichtendiensten Dank und Anerkennung
ausgesprochen.
Nicht alle würden heute in das Loblied einstimmen. Fragen zum taktischen
Vorgehen, aber vor allem Kritik an den Behörden der Terrorismusbekämpfung
werden laut. Denn diese hätten die Gefährlichkeit Merahs trotz zahlreicher
Alarmsignale gewaltig unterschätzt. Fachliche Kritik an der
Polizei-Elitetruppe RAID übt Christian Prouteau in der Zeitung Ouest
France.
Er hatte in den Achtzigerjahren für Präsident Mitterrand die
Gendarmerie-Spezialeinheit GIGN gegründet und früher selber mehrere
Kommandoaktionen geleitet. Wie für viele Laien sei es ihm unbegreiflich,
dass die angeblich besten Polizisten Frankreichs nicht fähig waren, einen
einzelnen Mann lebend zu fassen. Seiner Ansicht nach hätte man Tränengas in
hoher Konzentration einsetzen müssen, statt den Verdächtigen mit
Lärmgranaten noch aggressiver zu machen.
Sowohl Innenminister Guéant als auch RAID-Kommandant Amaury de Hauteclocque
rechtfertigten am Donnerstag in Le Monde den Einsatz mit Merahs extremer
Gewalt und Entschlossenheit. „Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass
ich jemanden gesehen habe, der uns angreift, obwohl wir ihn gerade
angreifen“, sagte der RAID-Chef.
## Für die USA galt Merah als terrorverdächtig
Am Freitag präzisierte Hauteclocque aufgrund der Polemik im TV-Sender
„France-2“, seine Leute hätten zunächst „nicht-tödliche“ Waffen eing…
und auch die Absicht gehabt, Tränengas anzuwenden, doch der Terrorist sei
ihnen mit seinem Angriff zuvorgekommen. Aus Notwehr habe man ihn dann außer
Gefecht gesetzt. Doch warum er mit einem Kopfschuss von einem
Scharfschützen getötet wurde, bleibt unklar.
Immerhin war Merah bereits seit Dienstag identifiziert und lokalisiert
worden, da er dem polizeilichen Nachrichtendienst DCRI seit Längerem
bekannt war. Auch bei den amerikanischen Behörden, die ihn 2010 nach seiner
Gefangennahme in Afghanistan verhört hatten, galt er als Terrorverdächtiger
und hatte in den USA Flugverbot. Erste Verdachtsmomente hinsichtlich seiner
Radikalisierung existierten, wie jetzt bekannt wird, schon ab seinem ersten
Gefängnisaufenthalt in Frankreich 2006.
Der bekannte Strategieexperte François Heisbourg meint darum, Merah sei
„nicht in adäquater Weise“ überwacht worden. Wie eine Ausrede tönt es f�…
ihn, dass heute zur Rechtfertigung der Fahndungsarbeit gesagt wird, man
habe zwar Merah als potentiellen Verdächtigen eruiert, aber seine Adresse
nicht gehabt. Dabei wurde Merah im November 2011 noch von der DCRI zu einer
Pakistanreise befragt, die er als touristisch motiviert darstellte.
Danach scheint die DCRI ihn rasch aus den Augen verloren zu haben. Für
Heisbourg steht aufgrund der neusten Informationen fest, dass es sich bei
Merah um einen äußerst gefährlichen und vor allem erstaunlich kaltblütig
agierenden Islamisten gehandelt hat, der mit Sicherheit für eine solche
Mission ausgebildet worden sei.
## "Es gab keine Indizen für seine Gefährlichkeit"
Hat die DCRI also in sträflicher Weise warnende Vorzeichen übersehen und
versagt? Keineswegs, antwortet Premierminister François Fillon kategorisch:
„Es gab keinerlei Indizien für seine Gefährlichkeit.“ Nur wegen seiner
Gesinnung habe man Merah nicht verhaften können.
Die Auswirkungen auf die Präsidentschaftswahlen am 22. April sind noch
nicht messbar, da die aktuellen Umfragen noch vor der Überwältigung von
Mohamed Merah erhoben wurden. Derzeit jedoch scheint Staatspräsident
Sarkozy, der die Sicherheit und die Frage des islamistischen Terrors nun
ins Zentrum seiner Kampagne stellt, aufzuholen. Für die Stichwahl am 6. Mai
hat er den bisherigen Rückstand gegenüber dem sozialistischen Favoriten
Francois Hollande von 46 auf 54 Prozent verkürzt.
In der ersten Runde liegen die beiden jetzt praktisch gleichauf.
Überraschender Dritter ist zurzeit der Linksfront-Kandidat Jean-Luc
Mélenchon; die Rechtspopulistin Marine Le Pen vom Front National könnte
aber wegen wachsender antiislamischer Ressentiments nach dem Schock von
Toulouse schnell wieder Boden gut machen, ebenso wie Präsident Nicolas
Sarkozy.
23 Mar 2012
## AUTOREN
Rudolf Balmer
## ARTIKEL ZUM THEMA
Wahlkampf in Frankreich: Die Jugend mag es radikal
Bei den jüngsten Wählern liegt Marine Le Pen von der Front National noch
vor Hollande und Sarkozy. Ihre Sprüche über Finanzmärkte und Ausländer
kommen an.
Kommentar Wahlkampf in Frankreich: Die größte Partei
Das Volk in Frankreich ist wahlmüde. Desinteresse bestimmt derzeit den
Wahlkampf um den nächsten Staatschef. Eine Mehrheit meint, eigentlich keine
wirkliche Wahl zu haben.
Arbeitskampf in Frankreich: Nichts zu danken!
Lejaby war mehr als eine Marke, mehr als ein Job. Wie Arbeiterinnen die
Schließung ihrer BH-Fabrik verhinderten. Und wie Nicolas Sarkozy das für
sich nutzt.
Video von Terroranschlag in Toulouse: Fernsehsender prüft Veröffentlichung
Al-Dschasira prüft derzeit, ob das vom Attentäter von Toulouse aufgenommene
Video veröffentlicht werden kann. Staatspräsident Sarkozy sagt Nein. Er
fordert Respekt vor den Opfern.
Attentäter von Toulouse nicht in Terrorcamp: Das Internet als Motivator
Er gehörte zu keiner Terrorgruppe und besuchte keine Trainingscamps. Der
Serienmörder von Toulouse handelte allein. Die Polizei ist in Besitz von
Videos, die Merah gefilmt hat.
Kommentar Attentatserie in Toulouse: Vernunft gegen Gefühl
Die Attentatsserie von Toulouse hat dem Präsidentenwahlkampf in Frankreich
einen völlig anderen Charakter verliehen. Den Wählern stellen sich nun
existenzielle Fragen.
Nach den Attentaten in Toulouse: Bruder der Komplizenschaft angeklagt
Abdelkader Merah soll den Roller gestohlen haben, von dem aus sein Bruder
Mohamed sieben Menschen erschossen hat. Unklar ist, wer von beiden das
erste Opfer „gefunden“ hat.
Islamismus in Deutschland: Die Dschihad-Jugend
Die Radikalisierung von Mohamed Merah ist typisch für Dschihadisten. Auch
in Deutschland gibt es junge Männer, die von Salafisten als Terroristen
angeworben werden.
Kommentar Toulouse-Attentatserie: Der nützliche Waffensammler
Gegen radikalisierte Einzeltäter kann sich eine Gesellschaft schwer
wappnen. Dagegen, dass Politiker derartige Taten für ihre Agenda
instrumentalisieren, auch nicht.
Frankreich nach den Attentaten: Neue Gesetze gegen Hassprediger
Der Serienmörder von Toulouse war geheimdienstlich bekannt. Dass vor den
Morden nichts passierte, erklärt der Premierminister mit dem Rechtsstaat.
Neue Gesetze sollen vorbeugen.
Nach dem Attentat in Toulouse: Die Verwirrung nach dem Schuss
Der mutmaßliche Attentäter von Toulouse ist tot – die französische Polizei
wird für den Einsatz kritisiert. Die Politiker streiten derweil weiter.
Attentate in Frankreich: Motive sind noch unklar
Die Franzosen rätseln über einen Zusammenhang zwischen der Attacke auf die
jüdische Schule und den Soldatenmorden. Rassistische Motive sind eine
Möglichkeit.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.