# taz.de -- Debatte Eurozonenkrise: Weniger Europa ist mehr | |
> CDU, SPD, FDP und Grüne fordern als Antwort auf die Eurozonenkrise mehr | |
> Macht für Brüssel. Für ein „soziales Europa“ ist das genau falsch. | |
Eine stärkere Integration der EU, bei der weitere nationalstaatliche | |
Kompetenzen auf die supranationale Ebene transferiert werden, steht ganz | |
oben auf einer über Parteigrenzen hinweg verfolgten Agenda: Mehr Europa, | |
lautet die Antwort von der FDP bis zu den Grünen auf die Eurozonenkrise. | |
Gleichzeitig wurde im Zuge der FDP-Debatte um den Europäischen | |
Stabilitätsmechanismus (ESM) ein explizit chauvinistischer Pol sichtbar – | |
inklusive D-Mark-Nostalgie und direktdemokratisch verkleidetem | |
Nationalismus. | |
In diesem Konflikt zwischen „mehr EU“ und chauvinistischer | |
Renationalisierung sind die Perspektiven progressiver Bewegungen für ein | |
„soziales Europa“ an den Rand gedrängt. Wie können Gewerkschaften und | |
soziale Bewegungen erfolgreichen Widerstand gegen die rasante Zurichtung | |
der EU zu einer autoritären Austeritätsunion organisieren? | |
## Getarnte Hilfe für die Banken | |
Seit dem Beginn der Krise in der Eurozone haben die Regierungen in der EU | |
eine doppelte Linie verfolgt: Mit als „Hilfe“ an Staaten getarnten | |
Rettungspaketen wurden Milliarden in den maroden Bankensektor gelenkt. | |
Zugleich wurde die Chance erkannt, Haushalts- und Lohnkürzungen | |
durchzusetzen und soziale Rechte abzubauen. Und zwar in einem Maße, wie es | |
in den vergangenen 30 Jahren neoliberaler Umstrukturierung kaum möglich | |
erschien. | |
In dem von der Troika, also von EU-Kommission, IWF und EZB kontrollierten | |
Griechenland gehört – um nur ein Beispiel zu nennen – die Tarifautonomie | |
bereits der Vergangenheit an. Motor der dahinterstehenden Politik ist | |
insbesondere auch die Bundesregierung. Deren Strategie zielt auf eine | |
dreifache Machtverschiebung: | |
Erstens sollen die Kräfteverhältnisse in den einzelnen Ländern zuungunsten | |
von Gewerkschaften, öffentlichem Sektor sowie LohnempfängerInnen verschoben | |
werden, die durch massive Kürzungen unter Druck gesetzt werden. Zweitens | |
wird diese Politik des Sozialabbaus durch neue Regelsetzungen auf der | |
europäischen Ebene dauerhaft festgeschrieben, wie etwa die deutsche | |
„Schuldenbremse“ supranational verallgemeinert wird. | |
Das führt dazu, dass auch in anderen Ländern zivilgesellschaftliche Akteure | |
und nationale Parlamente kaum Spielräume haben, einen Politikwechsel | |
einzuleiten. Drittens verfolgen die deutschen Eliten die Strategie, die EU | |
neu zu hierarchisieren und den Einfluss Berlins substanziell auszubauen. | |
Die EU wird so einer autoritären Transformation unterworfen. In Ländern wie | |
Portugal und Irland ist die Demokratie bereits durch die Troika | |
suspendiert. Neue Verträge wie der ESM stehen außerhalb der | |
EU-Entscheidungsverfahren und untergraben nationale Verfassungen. Vor allem | |
der Fiskalpakt überträgt das „Königsrecht“ der jeweiligen Parlamente, das | |
Budgetrecht, zu wesentlichen Teilen auf ein demokratisch kaum legitimiertes | |
supranationales Organ der Exekutive, nämlich die EU-Kommission. | |
## Der Fehler von SPD und Grünen | |
In Deutschland wird dieser Kurs von einer ganz großen Koalition mitgetragen | |
– die beiden Regierungs- und die beiden größeren Oppositionsfraktionen sind | |
sich im Wesentlichen einig. Darüber können auch die Diskussionen über | |
Zugeständnisse nicht hinwegtäuschten, welche SPD und Grüne für ihr Ja zum | |
Fiskalpakt einfordern. Denn selbst wenn Rot-Grün durchsetzen könnte, dass | |
eine Finanztransaktionssteuer und Wachstumsimpulse den Fiskalpakt | |
flankieren, würde dies nichts anderes bedeuten, als demokratische | |
Kompetenzen des Parlaments sowie soziale Rechte für ein Linsengericht zu | |
verkaufen. | |
SPD und Grüne versuchen sich von der Bundesregierung programmatisch | |
abzusetzen, indem sie die Krisenlösungsparole „Mehr Europa!“ um soziale und | |
demokratische Vorzeichen erweitern. Im Kern zielt ihre Politik auf eine | |
moderat keynesianisch ausgerichtete europäische Wirtschaftsregierung und | |
die Demokratisierung der EU-Institutionen, vor allem durch eine Stärkung | |
des Europäischen Parlaments. | |
Eines aber wird dabei unterschlagen: Nie war der Kontinent weiter von einer | |
demokratischen EU und einem „Europäischen Sozialmodell“ entfernt als heute. | |
Deshalb bieten auch die rot-grüne Varianten einer stärkeren Integration | |
keine Alternative. SPD und Grüne können nicht schlüssig erklären, welche | |
politischen Kräfte absichern sollen, dass die weitere Übertragung von | |
nationalstaatlicher Souveränität auf die europäische Ebene einem wie auch | |
immer gearteten sozialen und demokratischen Kurs folgt. | |
Ein Kooperatismus mit starken Gewerkschaften und Sozialverbänden, der bis | |
in die 1980er Jahre ein Pfeiler des Wohlfahrtsstaates war, ist heute nicht | |
greifbar – angesichts der Schwäche der Gewerkschaften zeichnet sich eine | |
Renaissance nicht einmal an einem fernen Horizont ab. Soziale Bewegungen | |
über Ländergrenzen hinaus bringen derzeit – trotz erster Ansätze – nicht | |
das nötige politische Gewicht auf die Waage. | |
## Chance für neue Bündnisse | |
Wenn aber die Dynamik der EU-Integration auf eine Verschärfung des | |
neoliberalen Projekts zugunsten der Reichen hinausläuft, werden sich Linke | |
nicht nur gegen chauvinistische Strömungen positionieren müssen. Sondern | |
auch gegen den supranational orientierten Block, der „mehr Europa“ | |
propagiert und dabei die Abwicklung sozialer und demokratischer Rechte | |
durchsetzt. | |
Widerstand dagegen heißt vor allem: eine Blockadestrategie auf dem | |
nationalstaatlichen Terrain gegen weitere Schritte europäischer | |
Integration. Soziale Bewegungen können dabei auf ihre Erfahrungen aus den | |
transnational koordinierten „Non!“-Kampagnen gegen den Lissabon-Vertrag | |
schöpfen. | |
Ein solidarischer Entwicklungspfad kann nicht mittels, sondern nur gegen | |
die EU-Institutionen durchgesetzt werden. Für aus guten Gründen auf | |
europäische Zusammenarbeit setzende Linke mag dies keine einfache | |
Erkenntnis sein. Doch sie eröffnet gerade jetzt, wo sich die Krisendynamik | |
zuspitzt, auch die Möglichkeit für neue Bündnisse. Der Protest gegen den | |
Fiskalpakt und die Selbstentmachtung der Parlamente ist ein erstes Testfeld | |
für eine solche Neupositionierung. | |
29 Mar 2012 | |
## AUTOREN | |
Alexis J. Passadakis | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Occupy-Bewegung | |
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