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# taz.de -- Debatte China: Kennen Sie China?
> Das mediale Bild vom Reich der Mitte ist von Vorurteilen geprägt. Wer das
> Land verstehen will, braucht einen offenen Blick. Wir sollten unser Bild
> von China korrigieren.
Bild: Noch ein Bild der Vorurteile: Model auf der Fashion Week in Peking.
Kennen Sie China? Wenn man auf deutsche Medien angewiesen ist, wird man
diese Frage kaum mit Ja beantworten können. Spricht man mit Menschen im
bevölkerungsreichsten Staat selbst, erleben viele die hiesige
Berichterstattung über ihr Land als höchst einseitig.
Vor allem, wenn es um die Politik geht, dominieren in der hiesigen Presse
Vorurteile. Vielen Beobachtern passt es offenbar nicht, dass die Chinesen
das Nachdenken über den Sozialismus noch nicht aufgegeben haben.
Nach dem soeben beendeten Volkskongress und kurz vor dem Führungswechsel an
der Spitze der Kommunistischen Partei gärt es gewaltig. Doch worum es in
den Richtungskämpfen geht, bekommt man hierzulande nicht recht mit. Da
stehen sich liberale Internationalisten, realistische Pragmatiker und
überzeugte Nationalisten im Streit um das beste Konzept gegenüber. Denker,
Strategen und Ökonomen wie Wang Hui, Hu Angang, Wang Shaoguang, Yu Ke-ping,
Zheng Bijian, Pan Wei oder Zhang Zhiying ringen um ein chinesisches
Verständnis von Freiheit. Sie sehen sich dabei mit einer neuen Rechten
konfrontiert, die wie die Fraktion der Technokraten gerade Geschmack am
Raubtierkapitalismus findet.
Auch zur in China geführten Diskussion von Rechtsstaatlichkeit und
Partizipation der Bürger lesen wir zu wenig – in dem riesigen Land tobt ein
Kampf der Generationen, in dem sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
wenig kompromissbereit gegenüberstehen. Doch das, was man dort diskutiert,
wird von einem China-Bild überlagert, das kaum Schattierungen kennt. Stets
wird China nur an den hier hochgehaltenen Spielregeln von Demokratie und
Partizipation gemessen. Und so dominieren Menschenrechte, Dissidenten,
Regimekritiker und Ai Wei Wei die Themenagenda.
Um nicht missverstanden zu werden: Selbstverständlich sind Menschenrechte
und Freiheit ein hohes Gut. Doch treten nicht Armut und Mangel an Bildung
weltweit als die größten Feinde der Demokratie auf?
## Ein gigantischer Aufholprozess
China ist nicht zu begreifen, wenn solche Widersprüche und die Versuche,
sie zu überwinden, nicht zur Kenntnis genommen werden. Der langjährige
starke Mann an der Spitze, Deng Xiaoping, der das Land reformierte und
einen gigantischen Aufholprozess in Gang setzte, zum Beispiel war auch für
das furchtbare Massaker auf dem Tienanmen-Platz verantwortlich – und
gleichzeitig für den gewaltigen Zuwachs an persönlicher Freiheit und
Wohlstand, den China in den vergangenen 30 Jahren erreicht hat. Über 500
Millionen Menschen konnten brutale Armut hinter sich lassen und in den
Mittelstand aufsteigen.
Oberflächliche Recherchen und Feindbilder machen es wiederum der
chinesischen Regierung leicht, die westliche Berichterstattung als
Propaganda abzutun. Jeder Fakt, jede raunende Nachricht über Machtkämpfe in
der Parteispitze wird mit ideologischer Glasur überzogen. Ganz so, als ob
in den „echten“ Demokratien politische Richtungswechsel ohne Rivalitäten
ablaufen würden.
## Kritik chinesischer Blogger
Und so ist es auch kein Wunder, dass die sehr gut informierten chinesischen
Blogger in Scharen die westliche Berichterstattung kritisieren. Wang Xiaobo
zum Beispiel oder der bekannteste Internetblogger des Landes, Han Han,
interpretieren die medial verbreiteten Positionen des Westens inzwischen
als Zeugnisse eines Kulturkampfes. Schon länger macht das Wort vom
„McDonald’s-Strategem“ die Runde – es zielt auf eine westliche Presse, …
sich bei ihrer auf Verkaufserfolg ausgerichteten Berichterstattung
folkloristischer Formen einer retrospektiven „Chinessness“ bedient. Mit
Begriffen wie dem „chinesischen Denken“ wird die ganze Bandbreite
unterschiedlicher sozialer, kultureller und politischer Motive in ein
grobes Raster gepresst. Und natürlich darf auch der simplifizierende Bezug
zu Konfuzius nicht fehlen.
Die chinesische Realität des Jahres 2012 sieht anders aus. Cyber-Guerillas
und Hacker sind stark genug, um die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua
oder eine der mächtigsten Medienfiguren Chinas, Li Xiguang, zu kritisieren.
Westliche Einmischung schätzen sie nicht. Sie verstehen sich als kritische
Journalisten und provozieren uns mit einem Selbstbewusstsein, das von mehr
Alternativen als nur der zwischen einem rigiden chinesischen und einem
westlichen Weg ausgeht. Ihre linksliberale Kapitalismuskritik trifft die
kapitalismusfreundlichen Technokraten in Peking genauso wie das schwer
kriselnde europäisch-amerikanische Modell.
Doch davon ist in Deutschland kaum etwas zu hören oder zu lesen. Immer
wieder ist diese Verzerrung kritisiert worden, sind Anläufe unternommen
worden, einen anderen, weiteren Blick auf China einzunehmen. Doch verändert
hat sich nicht viel. Vielleicht auch, weil Sichtweisen, die sich weder in
KP-unkritischer noch prowestlicher Affirmation erschöpfen, irritierende
Fragen aufwerfen.
## Überbleibsel der Vergangenheit
Ist mit dem Aufstieg der neuen Wirtschaftsmacht nicht auch der Abstieg
Europas und der USA verbunden? Bislang konnte sich die westliche Ökonomie
auch dank des Nachholbedarfs im Reich der Mitte stabilisieren. „Unsere
Erfolge“, das sind vor allem die nach China verkauften Autos, die dort in
den Städten für Verkehrsinfarkte sorgen. Allzu lange errichteten westliche
Firmen die Arbeitslager der Welt unter Vermeidung „westlicher Standards“ in
China – um dann scheinheilig die gigantische Umweltverschmutzung zu
beklagen. Die in einem anderen Licht erscheint, wenn man bedenkt, dass das
Land inzwischen der weltweit führende Investor in Ökostrom ist.
Mit solchen Gedanken im Hinterkopf und vor allem besseren Informationen
über die rasanten Entwicklungen in einem Land, das hierzulande immer noch
oft wie ein Überbleibsel der Vergangenheit betrachtet wird, sollten wir
unser Bild von China korrigieren. Denn dort ist längst eine Debatte über
die Zukunft entbrannt, die niemand mehr stoppen kann. Sie fordert die
chinesische Regierung ebenso heraus wie die oppositionellen
Intellektuellen. Und sie wird gravierende Auswirkungen auch auf unser Leben
haben. Wir sollten auf die Frage „Kennen Sie China?“ mit Ja antworten
können.
1 Apr 2012
## AUTOREN
Lydia Haustein
## TAGS
Schwerpunkt Überwachung
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