# taz.de -- 20. Jahrestag Bosnienkrieg: Die Wahrheit muss ans Licht | |
> Nichts erinnert in Omarska heute an die ermordeten Bosniaken. Rezak | |
> Hukanovic will das ändern. Nur knapp überlebte er 1992 das serbische | |
> Todeslager Omarska. | |
Bild: Ein bosnisch-serbisches Mädchen 1997 in Prijedor. | |
Rezak Hukanovic ist eine imposante Gestalt. Sein gefurchtes Gesicht, seine | |
kräftige Figur und die tiefe Stimme verbreiten Autorität. Alle Blicke | |
richten sich auf ihn, wenn er den Raum betritt. Kaum jemand käme auf die | |
Idee, dass er einmal halbverhungert im Todeslager Omarska um sein Leben | |
fürchten musste. Dass er zusammengeschlagen und schwer verletzt die | |
Torturen fast nicht überlebt hätte. | |
„Zwanzig Jahre ist es nun schon her, als unser aller Leben aus dem Ruder | |
lief“, erinnert er sich. Hukanovic war 1992 Radiojournalist in Prijedor, | |
lebte glücklich mit seiner Frau und den beiden Söhnen zusammen. Doch mit | |
einem Schlag wurde alles anders. Ende April 1992 hatten serbisches Militär | |
und Zivilisten die Macht in Prijedor übernommen, das kaum ein Jahr zuvor | |
demokratisch gewählte Stadtparlament aufgelöst und den Bürgermeister | |
abgesetzt. Zunächst blieb jedoch alles ruhig. Hukanovic durfte allerdings | |
wie alle anderen Muslime und Kroaten nicht mehr arbeiten. | |
Er blieb jedoch gelassen. „Der Sturm würde schon vorüberziehen, dachten wir | |
damals.“ In Bosnien hatte das multinationale Zusammenleben eine lange | |
Tradition. Wenige Monate zuvor wäre niemand auf die Idee gekommen zu | |
fragen, welche Religion jemand hat. In dem Haus seines Cousins wohnten | |
orthodoxe Serben und katholische Kroaten, in der Stadt waren ohnehin | |
katholische Katholiken und muslimische Bosniaken in der Mehrheit, beruhigte | |
er sich. | |
Doch am 30. Mai 1992 splitterte plötzlich die Tür. Serbische Milizionäre | |
stürmten herein, Pistolen und die Kalaschnikow im Anschlag. „Sie zwangen | |
mich mitzukommen.“ Ihm würde nichts passieren, nur eine Kontrolle, | |
erklärten sie. In einem Raum der Polizeistation saßen zusammengepfercht an | |
die hundert Männer. Viele kannte er, Rechtsanwälte, Ärzte, Beamte und | |
Kommunalpolitiker – die muslimische und katholische Führungsschicht der | |
Stadt. Einzeln wurden sie zum Verhör geführt, erzählt er. Zurück kamen | |
blutende und völlig verstörte Männer. | |
Dann fuhr ein Bus vor und brachte sie fort. Nach einer Stunde erreichten | |
sie ein Lager im Erzbergwerk Omarska. Es war mit Hunderten bewaffneter | |
Serben gesichert. Kaum angekommen, mussten die Gefangenen durch ein Spalier | |
gehen, wo Milizionäre auf sie einschlugen. Auch sein 16-jähriger Sohn | |
musste dies mehrere Tage über sich ergehen lassen. | |
## Ein Klumpen aus Fleisch und Blut | |
Doch dies war nur das Vorspiel für ein zehnwöchiges Martyrium. In einem | |
Raum mit Hunderten von Gefangenen sitzend, wiederholte sich jeden Tag die | |
gleiche Prozedur: Die Gefangene wurden herausgerufen. Als sie zurückkamen, | |
waren manche nur noch Klumpen aus Fleisch und Blut. Viele kamen gar nicht | |
mehr zurück. Auch Hukanovic wurde mehrmals ins „Weiße Haus“ gebracht, wie | |
das Folterzentrum genannt wurde. | |
Er hat es wohl seiner robusten Verfassung zu verdanken, dass er überlebt | |
hat. „Mein Sohn Gott sei Dank auch.“ Wer aber ins „Rote Haus“ gerufen | |
wurde, hatte sein Todesurteil erhalten. Über 3.200 Menschen sind in Omarska | |
mit Dolchen, Pistolen, Knüppeln und anderen Werkzeugen ermordet worden, | |
schätzt er. | |
Ende August 1992 wurden die Überlebenden zunächst in andere Lager und | |
schließlich mithilfe des Roten Kreuzes nach Kroatien außer Landes gebracht. | |
Dann wurden er und seine Familie von Norwegen als Flüchtlinge aufgenommen. | |
Noch heute weiß er nicht, wie er diese Zeit überlebt hat. „Ich weiß nur, | |
dass ich mir das alles von der Seele schreiben musste.“ Für sein 1996 in | |
Englisch erschienenes Buch über seine Gefangenschaft, „The Tenth Circle of | |
Hell“, hat Elie Wiesel, Holocaustüberlebender und Friedensnobelpreisträger, | |
das Vorwort verfasst. Das Buch hat viele Leser zutiefst erschüttert. | |
1998 kehrte er in seine Heimat zurück. Er wohnt sogar wieder in seinem Dorf | |
nahe Prijedor. Die vor dem Krieg rund 100.000 Menschen zählende Stadt und | |
sein Dorf sind mit dem Abkommen von Dayton 1995 der serbischen | |
Teilrepublik, der Republika Srpska, zugesprochen worden. Vor dem Krieg | |
waren orthodoxe Serben und muslimische Bosniaken ungefähr gleich stark | |
vertreten. Die katholischen Kroaten machten rund 6 Prozent aus. | |
In seinem Beruf als Journalist arbeiten kann er hier nicht mehr. | |
Nichtserbische Rückkehrer haben es schwer, in der Republika Srpska Arbeit | |
und Auskommen zu finden. Obwohl gesetzlich dazu verpflichtet, einen Proporz | |
einzuhalten, stellen die staatlichen und städtischen Verwaltungen, Medien | |
und Betriebe nur sehr wenige nichtserbische Rückkehrer ein. Sollte jedoch | |
ein Bosniak in Prijedor einen Betrieb, ein Hotel oder ein Restaurant | |
eröffnen, was möglich ist, muss er mindestens 50 Prozent Serben | |
beschäftigen. | |
## „Eine Art Apartheid“ | |
Rezak Hukanovic ist gegen diese Ethnopolitik. Er tritt für das friedliche | |
Zusammenleben von Menschen ein. Die Regularien der Republika Srpska hält er | |
für diskriminierend. „Das ist eine Art Apartheid, die im April 1992 ihren | |
Anfang nahm.“ Hukanovic ist 1998 zurückgekommen. Doch seine Familie lebt | |
weiterhin in Norwegen. „Meine Söhne haben dort Arbeit gefunden. Sie kommen | |
nur zu Besuch.“ | |
Zwar tritt er ab und an die lange Fahrt nach Norwegen an, doch er bleibt | |
nicht lange. „Aushalten kann ich es dort nicht.“ Er will Prijedor nicht | |
aufgeben. Er hat sich hier ein neues Leben organisiert und in dem kaum 30 | |
Kilometer entfernten Städtchen Sanski Most, das im bosniakisch-kroatischen | |
Teilstaat liegt, ein viel besuchtes Café eröffnet. Vom Café geht es zu den | |
Räumen der lokalen privaten Fernsehstation. Hukanovic ist nebenbei auch | |
Journalist geblieben. Mit seinen Programmen erreicht er auch Prijedor. | |
Rezak Hukanovic will nicht resignieren. Und er steht nicht allein. | |
Entlang der Strecke von Sanski Most nach Prijedor fließt der zu dieser | |
Jahreszeit reißende Fluss Sana. Der Blick auf das grünliche Wasser, die | |
Weiden, die schon mit Vorfrühlingsblumen durchsetzten Wiesen, die blühenden | |
Obstbäume in dieser sanften und fruchtbaren Landschaft – all das ist eine | |
wohltuende Abwechslung zu den Gesprächen über die Vergangenheit. | |
Kurz vor Prijedor tauchen viele neue Häuser auf. „Die waren alle zerstört, | |
niedergebrannt.“ Die Vertriebenen haben nach 1999 ihren Besitz | |
zurückerhalten und mit dem Geld, das sie im Ausland verdienten, die Häuser | |
schöner und größer wiederaufgebaut. „Im Sommer kommen sie zurück, dann ist | |
hier viel los“, sagt Sudbin Music. Der 38-Jährige hat die Zerstörung seines | |
Dorfs Carakovo, die Metzelei, bei der hier 1.800 Menschen ermordet wurden, | |
darunter die meisten Mitglieder seiner Familie, als Jugendlicher überlebt. | |
Und Music ist hiergeblieben und hat für jene 1.200 Menschen Grabstätten | |
angelegt, die in Massengräbern gefunden und deren Identität inzwischen | |
durch DNA-Vergleiche nachgewiesen wurde. | |
## Als wäre nichts gewesen | |
Die Fahrt endet beim Erzbergwerk Omarska, dreißig Kilometer östlich von | |
Prijedor. Heute gehört es zum indisch-britischen Stahlkonzern | |
ArcelorMittal. Vor zwanzig Jahren war es noch in Staatsbesitz. Das „Weiße“ | |
und das „Rote Haus“ werden vom Unternehmen benutzt, als wäre nichts | |
gewesen. Außenstehenden ist der Zutritt verboten. Nicht einmal eine | |
Gedenktafel dürfen die überlebenden Opfer anbringen. „Wir kämpfen um eine | |
Gedenkstätte“, sagt Hukanovic. | |
Wie kann das Zusammenleben gelingen, wo doch die serbisch-bosnische | |
Gesellschaft jede Schuld von sich weist? Und obwohl einige Verantwortliche | |
vom UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag verurteilt worden sind, | |
bestreiten die meisten serbischen Medien, dass es die Todeslager überhaupt | |
gegeben hätte. Nur einige Täter seien herausgegriffen worden, urteilt | |
Hukanovic. Und jetzt seien schon einige Verurteilte, so der 1994 in München | |
verhaftete Dusko Tadic, nach Verbüßung der Strafe in die Region | |
zurückgekehrt. „Rache wollen wir nicht. Aber die Wahrheit muss akzeptiert | |
werden. Ich schreibe jetzt gerade an einem zweiten Buch.“ | |
5 Apr 2012 | |
## AUTOREN | |
Erich Rathfelder | |
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