# taz.de -- Wahlkampf in Schleswig-Holstein: Habecks Scheißtag | |
> Grünen-Star Robert Habeck wollte das Land rocken, und seine Partei gleich | |
> mit. Dann kamen die Piraten. Und plötzlich wird Habecks Tag richtig | |
> beschissen. | |
Bild: Manche Tage sind für einen Politiker echt ätzend. Ob als Müllmann im W… | |
FLENSBURG taz | Am Ende wird Robert Habeck etwas derangiert auf dem | |
Rücksitz des Dienst-Audis sitzen. Einen Schluck aus der zweiten Flasche | |
Biobier nehmen, etwas von einem Scheißtag murmeln und dann ein paar Sätze | |
für Facebook in sein Smartphone tippen. Habeck, der sonst nicht zum | |
Fatalismus neigt, endet mit: „Gute Nacht, Schleswig-Holstein!“ | |
Es gibt Tage im Leben eines Politikers, die Zäsuren markieren. Die, | |
vielleicht, seine Zukunft bestimmen. Habeck hat jetzt, am späten | |
Donnerstagabend, einen solchen Tag hinter sich. Schuld daran sind die | |
Piraten. Diese neue Kraft, die die etablierten Parteien mit einer seltsamen | |
Mischung aus Verachtung, Angst und Neid betrachten. | |
Am Morgen dieses Tages sind die Piraten noch ganz weit weg. 5 Prozent haben | |
sie in den Umfragen. 15 die Grünen. Habeck fährt zum ersten Termin. Ein | |
Bauernhof in Langenhorn. Ferkel auf den Arm nehmen, Foto, danach eine | |
Diskussion mit Ökobauern. CDU wählen war in dieser Region vor ein paar | |
Jahren noch Religion. Heute dutzt Habeck alle Bauern beim Abschied. 15 | |
Prozent. Das wäre nicht schlecht für ein traditionell konservatives Land. | |
„Das ist erarbeitet“, sagt er im Auto. „Unser Kurs einer eigenen regional… | |
Identiät passt gut zum Land. Diese Haltung kommt hier an.“ Mit solchen | |
Sätzen geht er manchen Berliner Spitzenpolitikern fürchterlich auf die | |
Nerven. Er kokettiert mit den ungezählten SMS, die er aus der Hauptstadt | |
nach Interviews bekommt. Habeck steht unter Verdacht, Schwarz-Grün zu | |
wollen. Er hat aber schon vor Wochen beigedreht. Und hat angekündigt, es | |
mit den Sozis zu machen, wenn es reicht. | |
## Habeck gilt als lebender Beweis für die neuen Grünen | |
Im Moment sieht es danach aus. Die Eigenständigkeit funktioniert. Obwohl | |
die Grünen gerne so tun, als sei ihnen Personenkult fremd, wird Habeck, 42, | |
von vielen in der Partei als Star gesehen: Schriftsteller, promovierter | |
Philosoph, vier Kinder, erst spät richtig in die Politik eingestiegen – und | |
schon Landeschef und Spitzenkandidat. Er muss in Gesprächen mit Grünen oft | |
als lebender Beweis dafür herhalten, dass die Partei doch noch anders ist. | |
Frisch. Unverstellt. Wenn einer mit der angeblichen Coolness der Piraten | |
kein Problem haben dürfte, analysierte jüngst ein Grünen-Stratege in | |
Berlin, dann Habeck. | |
Sein ganzer Wahlkampf ist ein einziges Angriffsspiel. Junges Team, | |
Fohlentruppe. Plakate mit positiven Botschaften, nicht das übliche | |
Schwarz-Gelb muss weg. Videos im Netz, mit übersteuerten E-Gitarren | |
unterlegt. Beim Wahlkampfauftakt in einer Kieler Diskothek vor drei Wochen | |
sprang Habeck am späten Abend von der Bühne in die ausgestreckten Arme | |
seiner Parteifreunde. Ja, Sie lesen richtig: Ein Grüner macht Stage Diving. | |
Fahrt zurück nach Flensburg. Habeck hat einen Viererpack Bier vom Ökohof | |
mitgenommen und im Kofferraum verstaut. Seine politische Strategie | |
beschreibt er gerne mit Fußball-Metaphern: Sich an die Spitzenclubs hängen. | |
Mit dem FC Bayern und Borussia Dortmund vielleicht nicht um Platz 1 | |
spielen, aber nah dran bleiben bleiben. Das Prinzip Hoffenheim. | |
Am Nachmittag kommt der Moment, in dem all dies kippt. In dem Habecks Tag | |
zum Scheißtag wird. Er kriegt die neueste Umfrage aufs Smartphone. Die | |
Grünen sind 3 Prozentpunkte abgesackt, die Piraten haben 6 zugelegt. Beide | |
liegen fast gleichauf. Rot-Grün geht nicht mehr, Schwarz-Grün auch nicht. | |
Der Trend geht zur Großen Koalition. Und gegen Habeck. Der Audi rast über | |
die A7 Richtung Kiel, zum nächsten Termin. Eine Diskussion zur Zukunft der | |
Polizei im ländlichen Raum. Und hinten, auf der Rückbank, ringt Robert | |
Habeck um Fassung. | |
## Surreal das alles, findet Habeck | |
In dieser halben Stunde erlebt man einen Politiker, der es gewohnt ist, | |
sofort schlüssige Thesen zu formulieren, in einem seltenen Moment - dem der | |
Hilflosigkeit. Wofür das alles? Wenn sich eine Truppe, die inhaltlich nicht | |
zu fassen ist, in zwei Wochen mehr als verdoppelt? „Das wirkt surreal“, | |
sagt Habeck. „Diese Werte entsprechen nicht meinem Gefühl. Wir führen einen | |
Wahlkampf mit Lust und Kraft, gehen nach vorn, bekommen tolles Feedback. | |
Dass all das sich so wenig in Prozentpunkten ausdrückt, macht mich | |
nachdenklich.“ | |
Es fallen Sätze, die er nicht in der Zeitung lesen will. Es ist | |
offensichtlich: Habeck trifft das persönlich. In seinem Spiel waren die | |
Piraten keine echten Player, weil Habeck selbst das Anderssein verkörpert. | |
Jetzt wirkt er nicht mehr wie ein Erfolgstrainer, der mit seiner Truppe | |
voll auf Angriff spielt. Sondern wie jemand, der nicht mal mehr die | |
Spielregeln versteht. Aus dem selbstbewussten Eigenständigen droht einer zu | |
werden, der hilflos daneben steht, wenn CDU und SPD koalieren. | |
„Zweistellig, das braucht es, damit Rot-Grün klappen kann“, sagt Habeck. | |
„Uns war klar, dass wir mit dem Weg der Eigenständigkeit etwas Neues | |
probieren. Und ich habe das immer als Angebot an die Gesellschaft | |
verstanden, Rituale zu durchbrechen.“ Eine Hoffnung bleibt ihm noch: der | |
Südschleswigsche Wählerverband (SSW), eine Besonderheit | |
Schleswig-Holsteins. Die Regionalpartei der dänischen Minderheit ist immer | |
für vier Prozent gut. Sie preist Habeck bereits ein, um Rot-Grün zu retten. | |
„Ich persönlich kann mir im Zweifel auch ein Dreierbündnis mit dem SSW | |
vorstellen. Der Wählerverband steht uns programmatisch nahe.“ | |
Es wäre eine Notlösung. Große Teile der Bevölkerung akzeptieren den SSW | |
nicht als vollwertige Partei, drei Spieler machen die Sache immer | |
kompliziert. Vor allem aber ist offen, ob SPD-Mann Torsten Albig für so ein | |
Wackelbündnis die CDU stehen lassen würde. Albig war mal Sprecher von | |
Ex-Finanzminister Peer Steinbrück, ihm wird nachgesagt, so ähnlich über | |
Koalitionen zu denken wie sein ehemaliger Chef. | |
## Die Piraten rocken – auch ohne Inhalte | |
Es ist 22 Uhr geworden. 150 Polizisten und Feuerwehrleute sitzen an langen | |
Holztischen und verdrücken Wiener Würstchen mit Kartoffelsalat. Die | |
Gewerkschaft der Polizei hat die Wand, vor der Habeck auf dem Podium redet, | |
mit ihren Wimpeln verschönert. Undankbarer Termin für einen Grünen. Am | |
interessantesten ist, dass dieses Mal ein Pirat mitdiskutiert. Und was er | |
nach der Veranstaltung erzählt. | |
Wolfgang Dudda, seit drei Jahren dabei, hat mal im Bundesvorstand gesessen | |
und ist jetzt in Schleswig-Holstein aktiv. Ein ruhiger Herr mit grauem | |
Bart, von Beruf Zollfahndungsbeamter. „Autofahrer hupen und recken den | |
Daumen hoch, wenn wir Plakate kleben“, sagt Dudda. „Die Leute verzeihen uns | |
unsere inhaltlichen Lücken, weil sie Sehnsucht nach neuer Politik haben.“ | |
Zum Piraten-Stammtisch kämen längst auch ältere Leute, eine Sozialrichterin | |
und eine Lehrerin, ein Bauer und ein Stuckateur. Man hätte mit ihnen dann | |
analog diskutiert, sagt Dudda. Und verabschiedet sich. | |
Mit seinen wenigen Sätzen hat er Habecks Problem treffend umschrieben. | |
Dudda, der Stage Diving wahrscheinlich nur vom Hörensagen kennt, rockt | |
plötzlich. Und für Habeck beginnt der Kampf ganz von vorn. | |
15 Apr 2012 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
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