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# taz.de -- Grass-Debatte bei Jauch: Gewissermaßen ein Trottel
> Ist Grass ein Antisemit? Eher nicht. Greift Israel den Iran an? Keine
> Ahnung. Lohnt eine Debatte über das Thema? Jauchs Talkrunde entwickelte
> teils seltsame Antworten.
Bild: Unverwechselbar: Schnäuzer und Sakko.
BERLIN taz | Nein, Marcel Reich-Ranicki kam nicht. Der wortgewaltige
Literaturkritiker, der das Grass-Gedicht über Israel eine Woche zuvor mit
dem Wort „ekelhaft“ belegt hatte, zog es vor, nicht im Studiio zu
erscheinen, sondern sich in einem kurzen und aufgezeichneten Statement aus
seiner Frankfurter Wohnung zu Wort zu melden. Das sei dem 91-Jährigen
ausdrücklich verziehen, nicht jedoch den ARD-Reklamestrategen, die mit
seinem Namen zuvor die Werbetrommel gerührt hatten.
Nein, niemand wollte Günter Grass an diesem Abend mit der Bezeichnung
„Antisemit“ brandmarken, wiewohl der Schauspieler Michael Degen und der
Historiker Michael Wolffsohn berechtigte Zweifel über Grass'
Geschichtsbewusstsein äußerten. Aber den deutschen Dichter zum Judenfeind
erklären? Das hätte vielleicht die Quote erhöht, aber bestimmt nicht die
Beliebtheit der Anwesenden beim deutschen Kulturvolk.
Nein, keiner mochte auch seinen Text, Gedicht genannt, literarisch
lobpreisen und, nein, es fand sich auch kein Diskutant, von Jakob Augstein
bis Michael Wolffsohn, der Grass' Thesen ohne Einschränkung zustimmte. „Er
muss Skandale machen. Er ist 85,“ war das vernichtende Verdikt
Reich-Ranickis über den Literaturnobelpreisträger, und weiter: „Herr Grass,
musste das sein?“
## „Literarisch nicht notwendig“
Entwicklungsminister Dirk Niebel (FDP) assistierte: „Literarisch nicht
notwendig, inhaltlich nicht hilfreich.“ Grass habe mit seinem Text Ursache
und Wirkung vertauscht. Nicht Israel sei der Agressor, sondern der Iran.
Und selbst Jakob Augstein, der Herausgeber des Freitag und jüngst als
Grass-Verteidiger aufgetreten, wusste keine Antwort darauf, was Grass
geritten hatte, Israel einen atomaren Erstschlag gegen Teheran zu
unterstellen.
Heide Simonis, dem Schriftsteller aus ihren vergangenen Tagen als
schleswig-holsteinische Landesmutter verbunden, fasste zusammen: Grass
wollte eine große Diskussion, die aber sei ihm gründlich misslungen.
Grass ist also, lernt das Sonntagabend-Publikum, zwar kein richtiger
Antisemit, aber doch, zumindest was sein jüngstes Werk betrifft,
gewissermaßen ein Trottel, wobei das Wort „Trottel“ selbstverständlich
nicht fallen konnte, weil man einen deutschen Literaturnobelpreisträger
schließlich nicht beleidigen darf.
## Nur ein Sakko
So war das Thema des alternden Dichterfürsten schnell abgehakt, und man
fragte sich schon, wie man die restlichen Minuten des Abends denn
durchzubringen gedachte, da geschah das, was zuvor noch alle Teilnehmer
implizit abgelehnt hatten: Es wurde nämlich über Israels Politik über den
Iran diskutiert, ebenso über Teherans Politik gegenüber Israel, wenn man
dessen Vernichtungsphantasien so nennen möchte, und über Deutschland –
nämlich über die von Bundeskanzlerin Merkel ausgerufene Staatsräson der
historischen Verantwortung der Bundesrepublik gegenüber dem Judenstaat.
Neue Fakten kamen dabei zwar nicht zutage. Aber immerhin gut begründete
Meinungen. Ob Israel schon so gut wie angegriffen hat, wie der als Experte
auftretende Michael Lüders meinte, wurde heftig in Zweifel gezogen. Ebenso,
ob der Iran überhaupt die Möglichkeit haben könnte, Israel wie gewünscht zu
vernichten. Ob deutsche U-Boote für Israel wichtig und sinnvoll sind, blieb
ebenso strittig, genauso wie die Frage, ob der Druck auf den jüdischen
Staat nicht erhöht werden müsse, damit es nicht zu einem Angriff auf den
Iran kommt.
Eine Talkshow hat naturgemäß nicht die Aufgabe, ein einheitliches
Meinungsbild zu ergeben. Und bei allem Streit war diese Debatte eins:
lehrreich für diejenigen, die in der nahöstlichen Gemengelage nicht mehr
durchblicken.
Es gab aber auch, das sei hier nicht verschwiegen, unstrittige Wahrheiten
an diesem Abend. 1. Keiner mag die Regierung Netanjahu, wobei
seltsamerweise erwartet wird, dass alle Israelis die Regierung Merkel
lieben sollen. 2. Über die deutsch-israelische Freundschaft wird zwar viel
von Politikern geredet, sie existiert aber nicht im deutschen Volke. Und 3:
Der Literaturnobelpreisträger besitzt offenbar nur einen einzigen Sakko.
16 Apr 2012
## AUTOREN
Klaus Hillenbrand
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