| # taz.de -- Debatte Günter Grass: Wer Antisemit ist, bestimme ich! | |
| > Kaum ein Begriff wird in Deutschland derart inflationär und | |
| > verantwortungslos verwendet wie der des Antisemitismus. Das aber schadet | |
| > dessen Bekämpfung. | |
| Bild: Wer Antisemitismus bekämpfen will, sollte die rote Karte nicht inflation… | |
| Über den Inhalt von Günter Grass’ Gedicht „Was gesagt werden muss“ ist | |
| inzwischen genug gesagt worden. Es lohnt sich nicht, dem Gesagten etwas | |
| hinzuzufügen. Das Gesagte hat die Divergenzen in Gesinnung und Ideologie | |
| deutlich genug aufgefächert; Bahnbrechendes ist nicht mehr zu erwarten. | |
| Umso mehr gilt es, den öffentlichen Sturm, den das Poem entfacht hat, | |
| anzuvisieren und zu reflektieren. | |
| Solche Eklats sind in Deutschland nicht neu; sie gehören zur deutschen | |
| Streitkultur und spielen sich zumeist in den Sphären des Feuilletons, | |
| zuweilen im Akademischen, aber immer in einer Mischung aus bemerkenswerter | |
| polemischer Verve und nicht minder auffälligem Hang zur Hysterie ab. | |
| Die Skandaldebatte wird stets mit besonderer Vehemenz ausgetragen, wenn es | |
| um Juden, Deutsche, Israel und Deutschland geht: Zu horrend war die | |
| deutsch-jüdische Geschichte im 20. Jahrhundert, als dass ihr Neuralgisches | |
| heute schon abschwellen könnte. | |
| Und doch ist das, was die Idiosynkrasie zwischen Juden und Deutschen in der | |
| Nachkriegszeit ausmachte, mittlerweile so stark verdinglicht worden, derart | |
| zum Fetisch geronnen, dass die Beziehung zwischen ihnen nur noch wenig mit | |
| der eigentlichen Schreckensvergangenheit, auch kaum etwas mit realen | |
| jüdischen Lebenswelten im heutigen Deutschland zu tun hat; bestimmt wird | |
| sie vielmehr vorwiegend von ideologiegestählten Befindlichkeiten und | |
| fremdbestimmten Interessen. | |
| ## Antisemitismusbegriff als polemische Schmähpraxis | |
| Und so ist Günter Grass infolge der Publikation seines Gedichtes zum | |
| Antisemiten erklärt worden. Von wem? Vom israelischen Premierminister, vom | |
| Zentralrat der Juden in Deutschland, von führenden Personen der in | |
| Deutschland lebenden „jüdischen Intelligenz“ und von vielen Nichtjuden, die | |
| sich mit „Juden“ und „Israel“ panisch zu „solidarisieren“ pflegen. | |
| Es wäre müßig, hier nochmals darzulegen, warum die Kategorien Juden, | |
| Zionisten und Israelis und – davon sich ableitend – Antisemitismus, | |
| Antizionismus und Israelkritik auseinanderzuhalten sind. | |
| Nicht nur ist das oft genug erörtert worden, sondern es erweist sich immer | |
| wieder, dass die Klärungsversuche etwa so viel nützen wie Schröpfgläser | |
| einem Toten. Was indes nicht hingenommen werden kann, ist die sich als | |
| verantwortungsloser denn je erweisende Verwendung des | |
| Antisemitismusbegriffs als polemische Schmähpraxis. | |
| Der inflationäre Gebrauch des Begriffs hat bereits dermaßen zu seiner | |
| Banalisierung beigetragen, dass er sein ursprüngliches emanzipatives | |
| Aufklärungspotenzial nahezu vollends zugunsten interessengeleiteter, | |
| perfider Diffamierungstaktiken und -strategien eingebüßt hat. Nichts | |
| schadet der Bekämpfung des realen Antisemitismus mehr als diese | |
| entstellt-entstellende Nomenklaturorgie. In Deutschland ist sie | |
| mittlerweile zum zentralen Faktor der Degeneration der öffentlichen Debatte | |
| im Hinblick auf alles, was „Juden“, „Israel“ und den „Zionismus“ be… | |
| avanciert. | |
| ## Gesinnungskomplizen des Zentralrats der Juden | |
| Was dabei vergessen wird, ist die Verbandelung, die man zwangsläufig | |
| eingeht, wenn man sich solch diffamierender Benennungspraxis verschreibt. | |
| Man befindet sich nämlich in einem Boot mit faschistischen Siedlern in den | |
| von Israel besetzten Gebieten, die sich der Unterstützung seitens der | |
| reaktionärsten islamophoben Kräfte in Europa und den USA erfreuen dürfen; | |
| mit israelischen Alltagsrassisten, die jede Verurteilung ihres | |
| menschenverachtenden Denkens und Handelns „von außen“ mit dem | |
| Antisemitismus-Vorwurf parieren; mit dem gegenwärtigen Premierminister | |
| Israels, der wie wenige in letzter Zeit dazu beigetragen hat, die | |
| Schoah-Erinnerung instrumentalisierend zu besudeln, um seine | |
| Okkupationspolitik umso ungehinderter betreiben zu können; mit Ariel | |
| Scharon, einem seiner Vorgänger, der schon vor Jahren postulieren zu dürfen | |
| meinte, dass alle aus Europa kommende Kritik an der von ihm mit besonders | |
| schädlicher Emphase betriebenen Siedlungspolitik im Westjordanland | |
| zwangsläufig antisemitisch sei. | |
| Man ist aber auch objektiv Gesinnungskomplize des Zentralrats der Juden in | |
| Deutschland, der sich inzwischen wohl als Zweigstelle der israelischen | |
| Regierung beziehungsweise ihrer Botschaft in Deutschland begreift, mithin | |
| jede noch so horrende Politik Israels blind absegnet und mit | |
| unreflektierter Verve vertritt. | |
| Gar nicht zu reden von gewissen in Deutschland lebenden jüdischen | |
| Intellektuellen, die ihren Judenbonus und die Furcht von Deutschen, als | |
| Antisemit apostrophiert zu werden, so perfekt ausgereizt haben, dass sie | |
| eine Hegemonialstellung erlangt haben bei der Herstellung von „jüdischen“ | |
| Denkimperativen und ein Anrecht auf Einschüchterung von jedem, der sich | |
| ihren reaktionären Interessen und ihrem ideologischen Ansinnen in den Weg | |
| stellt. | |
| ## Diskrepanz zwischen Denkverbot und Wissen | |
| Genährt wird dadurch ein Ressentiment. Denn die Diskrepanz zwischen dem aus | |
| Angst befolgten Denkverbot und dem Wissen, wie es um Dinge, über die man | |
| (öffentlich) nicht sprechen darf, realiter steht, mithin zwischen | |
| konsensuellen Verhaltensvorgaben und dem Widerwillen, sich als souverän | |
| denkender Mensch solcherart dressieren zu lassen, muss ja irgendwie | |
| bewältigt werden. | |
| Jene in Deutschland, die wie Günter Grass denken, sich jedoch nicht | |
| getrauen, ihre Gedanken zu artikulieren, nun aber erfahren müssen, dass | |
| der, der ihrem Denken Worte gegeben hat, als Antisemit gebrandmarkt wird, | |
| sie somit selbst den Dreck des wahllosen Antisemitismusvorwurfs indirekt | |
| abbekommen haben, werden sich überlegen müssen, wie sie mit dieser | |
| psychisch-politischen Unwirtlichkeit umgehen. | |
| Die Reflektierten unter ihnen werden sich vielleicht zu einer gewissen | |
| Courage bewegen lassen – zum emphatischen Veto gegen die Manipulation des | |
| diffamierenden Antisemitismusvorwurfs und seiner einschüchternden | |
| Wirkmächtigkeit. Jenen, die an dem hinterhältigen Spiel dieses Vorwurfs | |
| partizipieren und sich an dem gegen den renommierten Schriftsteller | |
| erhobenen Vorwurf gerade delektieren, ist wohl ohnehin nicht mehr zu | |
| helfen. | |
| 10 Apr 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Moshe Zuckermann | |
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