# taz.de -- Als Kritiker ist Grass längst Geschichte: Die Weltlage aus Behlend… | |
> Lange galt Günter Grass als politisches und soziales Gewissen der BRD. | |
> Seine eigene Rolle hinterfragte er dabei kaum. Auch daher ist seine | |
> Kritik heute unglaubwürdig. | |
Bild: Der „Große Butt“ ist eine Ätzradierung von – na klar – Günter … | |
BERLIN taz | Im wichtigsten politischen Augenblick seines Lebens, im | |
Dezember 1970, war Günter Grass nur Zeuge. Ausnahmsweise kam er einmal | |
nicht zu Wort und stand nicht im Zentrum. Ein paar Meter entfernt vom | |
Geschehen, abgedrängt von Sicherheitsleuten, beobachtete er, wie | |
Bundeskanzler Willy Brandt vor dem Denkmal für die Opfer des Aufstandes im | |
Warschauer Getto auf die Knie fiel. Grass dachte ängstlich darüber nach, | |
wie diese Geste in Deutschland verstanden werden würde und dass sich nun | |
die „Meute seiner politischen Feinde, die Springer-Presse voran, abermals | |
auf ihn stürzen wird“. So erinnerte er sich fünfundzwanzig Jahre später | |
daran. | |
Die Politik Willy Brandts zielte stets in Richtung Osten, aber sie wurde, | |
weil sie sich den Konsequenzen der deutschen Geschichte stellte, überwölbt | |
vom deutsch-jüdischen Verhältnis und von Israel als einem transzendenten | |
Bezugspunkt. Hier, an dieser Stelle, liegt gewissermaßen der Nullmeridian | |
der politischen Existenz von Günter Grass. Als gebürtiger Kaschube aus | |
Danzig war er die personifizierte Beglaubigung der Entspannungspolitik in | |
der neuen Ära Brandt. | |
Bereits seit Beginn der sechziger Jahre war Grass für Brandt und die | |
„Es-Pe-De“ in den Wahlkampf gezogen. Ost und West waren die bestimmenden | |
Koordinaten seiner politischen Welt. Hier konnte er seine Rolle als | |
Gesellschaftskritiker optimal entfalten, dessen Selbstbewusstsein | |
gekräftigt wurde, wenn er auf beiden Seiten als Störfaktor wahrgenommen | |
wurde. | |
## Im Schatten historischer Vergangenheit | |
Störend wirkte Grass in der geschichtsvergessenen | |
Wirtschaftswunder-Bundesrepublik vor allem dadurch, dass er permanent auf | |
der Anwesenheit der Geschichte beharrte und sein Schreiben explizit als | |
„Schreiben nach Auschwitz“ begriff. Daher die aggressive Wucht der | |
„Blechtrommel“. Daher die dauerhafte Energie seines politischen | |
Engagements. Daher auch sein trotziges Beharren auf der deutschen | |
Zweistaatlichkeit nach 1989, die für ihn eine zwingende und richtige | |
Konsequenz aus Auschwitz war. Doch was sein Leben lang Antrieb und Unruhe | |
gewesen ist, wird in dem umstrittenen Gedicht zum Problem: dass er die | |
Kritik an Israel im Schatten seiner historischen Befangenheit formuliert. | |
Hätte er auf das ganze „Warum schwieg ich so lange“-Brimborium verzichtet, | |
hätte die Debatte vielleicht nicht den Umweg über Ekelbekundungen, | |
Antisemitismusvorwürfe und täglich anschwellende Hysterie nehmen müssen, | |
sondern sich gleich auf die westliche Lebenslüge konzentriert, nach der | |
eine Atommacht Iran unzumutbar, der arabischen Welt die Atommacht Israel | |
aber durchaus zumutbar ist. | |
Dabei hatte Grass schon 1973 in dem Artikel „Israel und ich“ in der | |
Süddeutschen Zeitung Positionen vertreten, die sich von seinen heutigen | |
nicht wesentlich unterscheiden. Auch wenn er also keineswegs geschwiegen | |
hat, formulierte er damals doch etwas vorsichtiger: „Nicht nur die | |
arabische Seite, auch der Staat Israel (Regierung und Opposition) hat sich | |
aus Sicherheitsbedürfnis fehlverhalten“. Und er fügte hinzu: „Im Grunde | |
etwas schrecklich Normales: Wie jeder andere Staat hat auch Israel das | |
Recht, in politischem Irrtum verstrickt zu sein.“ | |
## Differenz zu heute | |
Der Nachsatz beschreibt die Differenz zu heute, denn seither hat sich die | |
Lage im Nahen Osten dramatisch zugespitzt. Angesichts eines möglichen | |
atomaren Showdowns entfällt das Recht auf Irrtum. Das begründet die | |
Dringlichkeit des apokalyptischen Tonfalls in Grass’ Gedicht, aber nicht | |
zwingend seine in der Zuspitzung einseitige Kritik an Israel. | |
Grass’ Haltung mag grundsätzlich der von 1973 entsprechen – sein Standort | |
hat sich dennoch gründlich verändert. Das hat vor allem damit zu tun, dass | |
die Rolle des Großintellektuellen als Gesellschaftskritiker nach 1989 mehr | |
und mehr an Glaubwürdigkeit verlor. Mit dem Ost-West-Gegensatz ging auch | |
der Zwischenraum zwischen den Welten verloren, den der | |
Gesellschaftskritiker braucht, um einigermaßen glaubwürdig eine unabhängige | |
Position zu beziehen. Gesellschaftskritik muss ja so tun, als käme sie von | |
einem Ort jenseits des Kritisierten und außerhalb der Gesellschaft, weil | |
sich das große Ganze nur von dort aus in den Blick nehmen lässt. | |
Der Sozialismuskritiker sprach als Demokrat, der Kapitalismuskritiker als | |
Sozialist. Nach 1989 blieb aber auch für Günter Grass nur noch die interne | |
Rolle des Deutschen übrig, der zu Deutschen sprach. In seinem Israelgedicht | |
spricht er nun zu Israelis, vielleicht auch, nebenbei, zu Palästinensern | |
und Iranern. Die Suche nach einem neuen „Außerhalb“, von dem aus er | |
unbestechlich kritisch sein könnte, ist spürbar, doch er weiß selbst, und | |
schreibt es auch, dass er als Deutscher gegenüber Israel „Mal um Mal | |
eingeholt und zur Rede gestellt“ wird. | |
Ein Kritiker, der ins Kritisierte involviert ist, müsste nun jedoch | |
zuallererst sich selbst und die eigene Rolle in Zweifel ziehen. Das aber | |
war noch nie die Stärke von Günter Grass. Im Unterscheid zu Christa Wolf | |
hat er auch keine „Kindheitsmuster“ geschrieben – eine umfassende Analyse | |
der Prägungen, die er und seine Generation durch die Kindheit im Faschismus | |
erfahren haben. Das leistete er auch nicht in dem Erinnerungsbuch „Beim | |
Häuten der Zwiebel“, in dem sein spätes Bekenntnis, als 17-Jähriger in den | |
letzten Kriegsmonaten bei der Waffen-SS gedient zu haben, für Aufregung | |
sorgte. | |
Grass wird nun vor allem vorgeworfen, er mogle sich mit seinem Gedicht als | |
Deutscher auf die Seite der Opfer, ja der Überlebenden. Das hat die präzise | |
Begriffsanalyse von Frank Schirrmacher in der FAZ ergeben. Doch anstatt | |
diese Diagnose zu moralisieren und gegen Grass in Stellung zu bringen (was | |
einfach ist), lohnt ein Blick zurück auf die Verschiebungen des | |
Täter-Opfer-Diskurses seit 1989, der immer differenzierter wurde, sich | |
stärker als zuvor für die Seite der Täter und moralische Graubereiche | |
interessierte und auch Deutsche als Opfer von Krieg, Flucht, Vertreibung | |
und Vergewaltigungen thematisierte. | |
Dass das kein innerdeutsches, sondern ein internationales Phänomen gewesen | |
ist, belegen die Erfolge des Films „Schindlers Liste“ von 1993 und des | |
Romans „Die Wohlgesinnten“ von Jonathan Littell aus dem Jahr 2006. Grass | |
hatte daran seinen Anteil mit dem Roman „Im Krebsgang“ (2002), in dem er | |
vom Untergang der „Wilhelm Gustloff“ mit vielen tausend deutschen | |
Flüchtlingen an Bord erzählte, aber auch den Rechtsradikalismus in den | |
neuen Bundesländern behandelte. | |
## Überwindung der schematischen Gegenüberstellung | |
Wenn Grass über Deutschland sprach, dann immer mit Blick auf die ganze | |
deutsche Geschichte und ihr Nachwirken in der Gegenwart. Das war keine | |
billige Verschiebung der eigenen Position von der Seite der Täter auf die | |
der Opfer, sondern eher eine Überwindung dieser doch etwas schlichten, | |
schematischen Gegenüberstellung. Aber schon dabei klang die Wendung „Warum | |
sage ich jetzt erst“ als Generalbass des an der Geschichte leidenden | |
Deutschen mit. | |
Seltsam, dass gerade diese Redeweise nun so viel Wut hervorgerufen hat. Man | |
könnte die Erregung der Kritiker jetzt als Beleg für die Richtigkeit seiner | |
Thesen nehmen, doch Grass scheint Zustimmung geradezu systematisch | |
verhindern zu wollen. Bis in die Anmaßung der Gedichtform hinein ist sein | |
Text als Provokation angelegt. Er bettelt um Zurückweisung, und je heftiger | |
sie ausfällt, umso sicherer verfestigt er sich in der Rolle des einsamen | |
Kämpfers. | |
So wie er einst – mit gutem Grund! – Willy Brandt und sich an dessen Seite | |
von Feinden umstellt sah, so möchte er sich auch heute erleben. Sein | |
Fernsehauftritt, in dem er von einer gesteuerten Kampagne sprach, zeigte | |
aber nur einen alten Mann, der die Welt nach Kriterien einteilt, die der | |
Wirklichkeit nicht mehr entsprechen. So hilflos und aus der Zeit gefallen | |
wirkten seine Bemühungen, die Weltlage von Behlendorf aus zu erklären. | |
Warum also jetzt noch nachtreten? Der Kritiker ist Geschichte. Sein Werk | |
nicht. | |
9 Apr 2012 | |
## AUTOREN | |
Jörg Magenau | |
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