# taz.de -- Die Unfähigkeit zu entscheiden: Jetzt ist aber Schluss! | |
> Ob Piraten, Occupy oder Popmusik: Es grassiert die Lust am Ungefähren, an | |
> der Dauerdiskussion. Wollen wir uns nicht mal entscheiden? | |
Bild: Immer schön locker-geschmeidig larifari bleiben. Vielleicht lauert das b… | |
Antworten haben wir genug. Von Angela Merkel und Gerhard Schröder bis | |
zurück hin zur DDR und den 68ern. Letztere antworteten auf die Frage, wie | |
das gute Leben zu haben sei mit knallharter Ideologie, teilweise gar | |
Terrorismus und Staatswillkür – den härtesten Formen der Antwort. | |
So werden uns zumindest heute die Geschichten aus der jüngeren | |
Vergangenheit erzählt, auch und gerade im so genannten alternativen Milieu. | |
Die 68er bereuen, weil sie zu hart, zu entschieden waren, den anders | |
Meinenden zu oft nicht gelten ließen, von den damals Überzeugten aus der | |
DDR wird eine solche Reflexion zumindest verlangt. Was soll man daraus | |
lernen, außer weniger entschieden zu sein? Eher zu fragen als ständig zu | |
wissen, wo es langgeht. Aber klar, das gefällt den heute Erwachsenen auch | |
wieder nicht. | |
Mauer und maoistische Zellen sind Extreme. Aber auch in weniger ideologisch | |
belasteten Zeiten gilt die Antwort mehr als die Frage. „Basta“-Politik hieß | |
das bei Schröder, in Zeiten der Kanzlerin werden Entscheidungen etwas | |
weicher mit „alternativlos“ umschrieben. Praktiziert wird, und das lässt | |
sich bei der Euro-Krise exemplarisch beobachten, eine Politik, die zwar | |
zugibt, dass die Probleme komplex und vielschichtig sind, aber dennoch | |
behauptet, nur eine Lösung sei die Richtige. Das ist in der Konkurrenz der | |
Parteien begründet, wirkt auf Dauer aber trotzdem wie Heuchelei. | |
Und nicht nur die Parteien handeln so. Beim Bürgerprotest gegen den Bahnhof | |
in Stuttgart gilt für viele offenbar das Motto: „Demokratie“ bedeutet, dass | |
ich Recht bekomme. | |
Das ist schon Menschen vor den Piraten und der Occupy-Bewegung aufgefallen. | |
Um so mehr verwundert das Wundern. Über das Zaudernde und Unentschiedene. | |
Vielleicht weil es ein Lernen von den Vorgängern und die größtmögliche | |
Auflehnung zugleich ist, weil Fragen anders als Antworten nicht verwertbar | |
sind für ein auf Effizienz getrimmtes System. DANIEL SCHULZ, 33 | |
Parole „Emil“ | |
Von Menschen, die ihren Babys die Namen von Kinderbuchhelden geben, ist | |
keine Revolte zu erwarten. Die einzige Parole, auf die sich die Generation | |
der Um-die-30-Jährigen einigen kann, ist die „Parole Emil“ aus Erich | |
Kästners „Emil und die Detektive“. | |
Die eindeutige Botschaft ihrer Popmusik: Wir sind die, die sich nicht | |
festlegen wollen und können, weder privat noch beruflich, geschweige denn | |
politisch. Neben „vielleicht“ gehört „eigentlich“ zu ihrem Vokabular. … | |
kann sich schon entscheiden?“ lautet der programmatische Titel eines Songs | |
von Gisbert zu Knyphausen (33) über die Qual der Wahl seiner Generation, | |
die proportional zu ihren Möglichkeiten zunimmt. „Mein Herz ist immer | |
unterwegs“, singt er, „auf der Suche nach was Besserem und einer Liebe, die | |
mir steht.“ Dieses Verharren in Unverbindlichkeit macht nicht glücklich. | |
Wer sich immer alle Optionen offen hält, lässt permanent Gelegenheiten | |
verstreichen, die ihn glücklich machen könnten. | |
Es mögen Luxusprobleme sein, die zu Knyphausen und seine Fans plagen. Aber | |
sie plagen sie nun mal. Das Leiden an ihren Freiheiten kann nur larmoyant | |
finden, wer die Generation Gisbert für durchweg unpolitisch hält. Doch das | |
ist sie nicht, beziehungsweise wäre sie lieber nicht. Sie tut sich schwer | |
mit Bekenntnissen, weil sie immer auch die andere Seite der Medaille sieht. | |
Ihr dialektisches Denken lähmt sie. | |
Bei aller Bewunderung für Rio Reiser hat Gisbert zu Knyphausen sich bislang | |
davor gedrückt, einen politischen Song zu schreiben: „Meine Ansprüche wären | |
extrem hoch, und ich weiß nicht, ob ich die erfüllen kann“, sagte er 2010 | |
im taz-Interview. Er kapituliert vor der Größe und Komplexität der Welt, | |
wie auf ironischere Weise auch sein Kollege Tim Bendzko in seinem Hit „Nur | |
noch kurz die Welt retten“. DAVID DENK, 31 | |
Der Sex ist besser | |
Verliebtsein ist schön. Und immer wieder verliebt sein ist immer wieder | |
schön. Warum also festlegen? Jemanden kennenlernen, sich verabreden, | |
knutschen, Sex, alles. Für Singles ist das heute normal, für Leute in | |
festen Partnerschaften ist es rechtfertigungsbedürftig – und das ist | |
Quatsch. Die Idee von ewiger Treue und Bindung hat genau so ausgedient wie | |
die von einer festen Anstellung auf Lebenszeit oder von einer Schrankwand | |
in Eiche rustikal. | |
Natürlich muss man sich vorher mit dem Partner oder der Partnerin darauf | |
geeinigt haben, und es ist hässlich und böse, jemanden einfach fallen zu | |
lassen oder zu betrügen. Natürlich geht es immer wieder um Ehrlichkeit, | |
Bedürfnisse und Versprechen, auch um Eifersucht. Und natürlich muss man | |
nicht die Fehler der 68er-Generation wiederholen. Die musste rebellieren, | |
weil sie etwas sehr Neues wollten. Wir dürfen heute aus dem auswählen, was | |
sie erreicht haben. Man muss es noch nicht mal „offene Beziehung“ nennen, | |
wenn man den Begriff nicht mag, weil, wie gesagt: Man muss sich nicht | |
festlegen. Lust und Begierde sind komplex und Beziehungsentwürfe dürfen es | |
deshalb auch sein. | |
Und nein, das ist kein Zeichen von übertriebenem Zweifel oder Bindungsangst | |
oder zu viel „maybe“. Es ist einfach die Feststellung, dass man viel | |
verliert, wenn man zu sehr nach Sicherheit sucht. Stattdessen: immer wieder | |
neu anfangen, Dinge ausprobieren, wieder fallen lassen, und wieder von | |
vorne. Alles andere wäre vorauseilender Gehorsam gegenüber früheren | |
Generationen und Traditionen. MARGARETE STOKOWSKI, 26 | |
Die Männer sind schuld | |
Na klar, Piraten: Wer nichts macht, macht auch nichts falsch. Nach allen | |
Seiten offen und Projektionsfläche für sämtliche Sehnsüchte bleiben, dann | |
nehmen die Politikverdrossenen auch weiterhin dankbar die Koketterie mit | |
der Ahnungslosigkeit und Schwäche als notwendigen Diskurs an. Festlegen ist | |
ja auch was für Spießer. Komm ich heut nicht, komm ich morgen – diese | |
adoleszenten, unverbindlichen Anwandlungen vermögen die nicht mehr ganz | |
jungen Männer in dieser Männerpartei nicht abzulegen – trotz gut bezahltem | |
Job oder erfolgreicher Ich AG. | |
Doch das Sich-nicht-festlegen-wollen ist nicht nur ein Problem der Piraten. | |
Die vielen Möglichkeiten, die bildungsbürgerliche Herkunft, akademische | |
Ausbildung und urbaner Lifestyle bieten, verursachen bei viele 30- bis | |
Mitte 40-jährigen Männern ein überproportionales Bedürfnis zur permanenten | |
Überprüfung und Optmierung der eigenen Befindlichkeit. Und eine Ablehnung | |
gegenüber Verbindlichkeit und Verantwortung, die sich auch im | |
Zwischenmenschlichen niederschlägt. | |
Was die Frauen von der männlichen Dominanz befreien und zur | |
Gleichberechtigung führen sollte, hat der Mann als Einladung zur | |
Unverbindlichkeit für sich entdeckt. Ständig getrieben suchen diese ewigen | |
Buben den nächsten Trend, sortieren sie Meinungen, Menschen und Lebensstile | |
aus wie das iPhone der letzten Saison. Und das Schlimmste – es ist gar | |
nicht böse gemeint. Die Sahne abschöpfen aber keine Verantwortung | |
übernehmen – wer will das nicht? Erwachsene wollen das nicht. Irgendwann | |
muss Mann eine Haltung einnehmen, Entscheidungen treffen, begründen. | |
Aus der ihnen nachgesagten Verweichlichung infolge von Emanzipation weiß | |
diese Männer-Generation durchaus Vorteile zu schlagen und sie muss dabei | |
nicht einmal auf Männlichkeitsinsignien verzichten: Von der Playstation | |
über lautes Schwafeln bis hin zur eigenen Praktikantin – da sind sie Mann | |
und dürfen es sein. Aber immer schön locker-geschmeidig larifari bleiben. | |
Vielleicht lauert das bessere, das ruhm- und glorreichere Leben ja um die | |
Ecke. Die Lage ist hoffnungslos aber bloß nicht ernst. JULIA NIEMANN, 38 | |
Verwirrung stellt Macht infrage | |
Offene Fragen sind nicht nur Teil meines Philosophie-Studiums gewesen. Sie | |
sind das, was Philosophieren ausmacht. Wie kann eine globalisierte | |
Gesellschaft aussehen? | |
Was für Utopien müssen wir erfinden? Was sind die Lösungen für die | |
Probleme, die uns eine vermachtete und kapitalistische Welt beschert? Doch | |
die Antworten, die ich bei den Meisterdenkern fand, befriedigten mich | |
nicht: Sie waren zu alt und zu einfach. Damit ging es mir genauso, wie dem | |
postmodernen Philosophen Jean-François Lyotard, der die „großen | |
Erzählungen“ der Moderne für gescheitert erklärte: Sie sind zu simpel für | |
diese immer komplexer werdende Welt. Die Sehnsucht nach solchen Erzählungen | |
und Lösungen, die unser Weltbild ordnen und uns die Angst vor der Zukunft | |
nehmen, ist immer noch da – auch bei mir. | |
Aber ich kann ihnen nicht mehr glauben. Bin ich also nur ein weiterer | |
Salon-Philosoph, der selbstmitleidig vor dieser verwirrenden Realität | |
kapituliert, in der alle Werte, Systeme und Utopien zersplittern? Nein, | |
denn ich begreife immer mehr, dass die Unübersichtlichkeit unseres Daseins | |
eine gewaltige Chance bietet: Dass die Welt so verwirrend und uneindeutig | |
ist, liegt daran, dass immer mehr Menschen mitreden, die es früher nicht | |
taten oder konnten. | |
Sie sind damit ein Symptom für eine Gesellschaft, in der die Hierarchien | |
langsam flacher werden. Denn schließlich ist es nicht die Komplexität der | |
Wirklichkeit, die mich nervt, sondern die sehr eindeutigen Dinge, die darin | |
schief laufen und meist auf das Konto sehr eindeutiger Machtträger geht. | |
Nur in einer denzentralen, nicht-hierarchischen, sprich, unübersichtlichen | |
Welt verlieren sie ihren Einfluss. Ich will keine einfachen Lösungen mehr – | |
sie sind seit Jahrtausenden unser Problem. ERIK WENK, 25 | |
26 Apr 2012 | |
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