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# taz.de -- Pamuks „Museum der Unschuld“: Sammlung einer fiktiven Liebe
> „Das Museum der Unschuld“ in Istanbul zeigt Alltagsdinge der 60er und
> 70er Jahre, die in Pamuks Roman wichtig sind. Es ist das erste Museum der
> Welt, das ein Buch visualsiert.
Bild: Ein geschicktes Spiel zwischen Fiktion und Realität. Schlüssel hängen …
ISTANBUL taz | Der Knaller kommt gleich zu Beginn. Kaum ist man durch die
Eingangstür getreten, der Blick schweift noch suchend durch den Raum,
bleibt das Auge an der rechten hinteren Wand des Foyers hängen: Was ist
denn das? Eine Insektensammlung? Was aus einigen Metern Entfernung wie eine
Käfersammlung in einem Naturkundemuseum wirkt, entpuppt sich bei näherem
Hinsehen als eine äußerst skurrile Präsentation von Zigarettenkippen. Fein
säuberlich an der Wand aufgespießt, in Kolonnen nach Jahren geordnet, sind
hier genau 4.213 Zigarettenstummel zu sehen, jeweils mit einer kurzen
Bemerkung wie „nach dem Abendessen“ oder „vor dem Fernseher“ versehen. …
soll denn das?
Die Erklärung gibt der Roman „Das Museum der Unschuld“ des
Literaturnobelpreisträgers Orhan Pamuk. An diesem Wochenende eröffnete
Pamuk in Istanbul sein „Museum der Unschuld“, das erste Museum der Welt,
das einen Roman visualisiert. Die Zigarettenstummel sammelte der Held des
Buchs, „Kemal“, von seiner Angebeteten Füsun neben vielen anderen Dingen,
die ihn an die Geliebte erinnerten.
„Hat Füsun wirklich so viel geraucht?“, wollte dann prompt jemand von Orhan
Pamuk bei der Vorstellung des Hauses wissen, völlig vergessend, dass Füsun
ja nur eine Figur aus einem Roman ist. Das schon im Vorfeld viel
diskutierte Museum Orhan Pamuks, das manche vor allem als tolle PR-Aktion
sehen, dem Schriftsteller aber offensichtlich ein echtes Anliegen ist, ist
ein geschicktes Spiel zwischen Fiktion und Realität. Schon während Pamuk
den Roman entwarf, hatte er die Idee, gleichzeitig ein Museum
vorzubereiten. „Ich bin in den 90er Jahren viel in Europa herumgereist und
habe dort viele kleine Stadtmuseen besucht. Schon damals kam mir die Idee,
in Istanbul etwas Ähnliches zu machen“, erzählt er.
Tatsächlich ist aus dem Privatmuseum Orhan Pamuks jetzt so etwas wie ein
Istanbuler Stadtmuseum geworden, ein Stadtmuseum über das Alltagsleben in
den 60er und 70er Jahren der Stadt, dem Zeitraum, in dem auch die meisten
Romane Pamuks angesiedelt sind. Der besondere Reiz, die geniale Idee bei
der Gestaltung des Museums, ist eben, dass hier nicht irgendwelche
Alltagsgegenstände zu sehen sind, sondern Objekte, die sich alle im Roman
wiederfinden und die Pamuk, während er das Buch schrieb, selbst gesammelt
hat.
Das Buch, das in der Zeit von 2002 bis 2008 entstand, erzählt die
Geschichte von Kemal, einem Sohn aus reicher Familie, der sich kurz vor
einer standesgemäßen Verlobung in Füsun, eine entfernte und verarmte
Verwandte, verliebt.
## Das vermeintliche sexuelle Abenteuer wird zur Obsession
Was ihm zunächst als sexuelles Abenteuer erscheint, das ihn nicht an seiner
Verlobung hindert, wird ihm zur Obsession, als die junge Füsun den Kontakt
zu ihm nach seiner Verlobung abbricht. Er beendet die standesgemäße
Verbindung und versucht nun verzweifelt, Füsun ernsthaft für sich zu
gewinnen. Doch die ist zwischenzeitlich von ihren Eltern verheiratet
worden, der Form halber, wie Kemal hofft.
Mehr als acht Jahre lang besucht er nun Füsun, die weiterhin mit ihrem
Ehemann im Haus ihrer Familie lebt, unter verschiedenen Vorwänden bei ihren
Eltern, immer hoffend, sie möge sich von ihrem Pro-forma-Mann scheiden
lassen und zu ihm kommen. So schleppt sich das Drama über die Jahre hin. In
dieser Zeit sammelt Kemal Gegenstände, die er Füsun entwendet oder die er
aufliest, wie die beschriebenen Zigarettenkippen.
Die Gegenstände bewahrt er in seiner Junggesellenbude auf, richtet sich mit
ihnen ein, um seiner Geliebten nahe zu sein. Das Ganze nimmt ein tragisches
Ende. Füsun stirbt, kurz nachdem sie sich tatsächlich hat scheiden lassen
und sich Kemal zuwendet.
Im Buch lebt die Familie von Füsun in einem kleinen Haus in Cukurcuma,
einem Armenviertel unweit der Istanbuler Amüsiermeile in Beyoglu. Nach dem
Tod Füsuns beschließt Kemal, für sie ein Museum einzurichten, mit all den
Gegenständen, die er von ihr gesammelt hat oder die einen Bezug zu ihr
haben. Als reicher Erbe kauft er der Familie das Haus in Cukurcuma ab und
lässt es zu einem Museum umbauen. Im Dachgeschoss richtet er sich selbst
ein Plätzchen ein, wo er seine letzten Lebensjahre verbringt und
schließlich vereinsamt stirbt.
## Der Roman ist nicht autobiografisch, sagt der Autor
„Ich verrate Ihnen jetzt ein Geheimnis“, sagt Pamuk beim Museumsrundgang
ironisch, „ich bin nicht Kemal.“ Denn obwohl Kemal und Füsun natürlich
literarische Figuren sind, liegt es doch sehr nahe, in dem Roman
autobiografische Züge zu vermuten. Orhan Pamuk ist in genau demselben
Stadtteil und dem Milieu groß geworden wie sein Protagonist. Er stammt aus
einer begüterten Familie und bekannte schon mal freimütig, dass sein Vater
ihn bis weit in seine 30er Jahre aushalten musste, bis er das erste Mal mit
einem Buch Geld verdiente.
In seinem Kemal/Orhan-Museum hat er nun genau dieses Milieu des säkularen,
westlich orientierten Bürgertums Istanbuls aus den 60er bis 70er Jahren
wiederauferstehen lassen, aus dem er selber stammt. Er hat wie Kemal im
Roman ein kleines Haus in Cukurcuma gekauft, dem früheren Trödlerviertel,
das mittlerweile, mitgerissen von der rasanten Verwandlung Istanbuls, zu
einem Viertel schicker Antikboutiquen geworden ist. In detailversessener,
jahrelanger Kleinarbeit hat Pamuk dann gemeinsam mit Architekten,
Museumspädagogen, Designern und anderen Spezialisten daraus ein
erstaunliches Museum seiner eigenen Fantasie gemacht, das gleichzeitig die
Istanbuler Stadtgeschichte der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts
zeigt.
Warum er das Haus „Museum der Unschuld“ nennt, will zum Schluss noch jemand
wissen. Die Antwort findet sich am Anfang des Buches, als Pamuk den
glücklichsten Moment Kemals beschreibt, den Moment, in dem ihn die Liebe
mit Füsun von Schuld und Sühne befreit.
29 Apr 2012
## AUTOREN
Jürgen Gottschlich
## TAGS
Türkei
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