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# taz.de -- Integrationspolitik: "Ich bin nicht von Beruf Migrantin!"
> Ihre Erfahrungen als Kind türkischer Einwanderer haben sie zur
> pragmatischen Politikerin gemacht, sagt Integrationssenatorin Dilek Kolat
> (SPD).
Bild: Dilek Kolat bei ihrer Verteidigung als Senatorin am 1.12.2011.
taz: Frau Kolat, die Opposition hat Ihnen schon drei Monate nach
Amtsantritt unterstellt, gescheitert zu sein: Erst musste die Wahl des
Integrationsbeirats für ungültig erklärt werden, dann kündigte der
Integrationsbeauftragte seinen Rückzug an. Zudem kämen von Ihnen keine
eigenen Ideen. Wo soll es hingehen mit einer Integrationssenatorin Dilek
Kolat?
Dilek Kolat: Zu Recht hat die Opposition nachgefragt, was die Wahl des
Integrationsbeirats angeht. Das Parlament hat das Recht, Transparenz zu
verlangen. Die Wahl muss aufgrund eines Formfehlers wiederholt werden. Aber
allein, dass wir das hier im Haus rechtlich geprüft und dann gesagt haben,
wir wollen den Beirat auf ordentlicher Basis starten lassen, zeigt, dass
uns das Gremium sehr wichtig ist.
Dann kam die Rücktrittsankündigung von Günter Piening: Auch für Sie
überraschend?
Herr Piening wollte nach neun Jahren nicht mehr weitermachen. Das ist seine
persönliche Entscheidung. Sie hat nichts mit meinem Amtsantritt zu tun. Wir
stimmen in unserer Auffassung von Integrationspolitik sehr überein. Die
Konzepte, die Herr Piening entwickelt und umgesetzt hat, sind Bestandteil
unserer Koalitionsvereinbarung mit der CDU. Dass er diese Entscheidung
getroffen hat, ist schade für die Stadt.
Piening befürchtete, seine Konzepte unter einer rot-schwarzen Koalition
nicht umsetzen zu können. Sie haben gesagt, dass Sie keine Konflikte mit
der CDU erwarten. Wo stehen Sie integrationspolitisch zwischen Pienings
Auffassung, dass Einwanderung die Gesellschaft verändert, und der CDU,
deren Integrationsbegriff auf Anpassung setzt?
Es ist klar, dass es bei zwei verschiedenen Parteien auch Differenzen gibt.
Wir haben diese Differenzen bei den Koalitionsverhandlungen diskutiert. Das
kommunale Wahlrecht etwa ist ein Thema, bei dem wir uns nicht einigen
konnten. Wir haben als SPD da die klare Position, dass zu
gesellschaftlicher Teilhabe gehört, dass Menschen, die viele Jahre in
Deutschland leben, das kommunale Wahlrecht bekommen. Das lehnt die CDU ab.
Was wir aber geschafft haben, und das ist auch republikweit ein Novum: Wir
haben mit der CDU beschlossen, dass wir die Optionspflicht aufheben wollen,
die die hier geborenen Einwanderernachkommen, die zunächst Doppelstaatler
sein dürfen, zwingt, sich mit der Volljährigkeit für eine ihrer beiden
Staatsbürgerschaften zu entscheiden. Das sehe ich als Fortschritt an.
Übereinstimmung gibt es auch bei Themen, die Herr Piening in der Stadt sehr
vorangebracht hat: die interkulturelle Öffnung der Verwaltung und die
Kampagnen für Einbürgerung. Es gibt in der Koalition den klaren Konsens,
das fortführen und voranbringen zu wollen.
Trotzdem noch einmal die Frage: Was bedeutet Integration für Sie?
Für mich ist Integration Teilhabe an Bildung, am Erwerbsleben, am
gesellschaftlichen Leben. Es geht darum, dass jugendliche Migranten bessere
Schulabschlüsse erreichen, dass ihnen der Übergang von der Schule in den
Beruf gelingt, dass die Arbeitslosigkeit unter Menschen mit
Migrationshintergrund abnimmt.
Gut, aber auch auf dieser Ebene gibt es noch Differenzen: Ist Teilhabe
etwas, was Einwanderinnen und Einwanderer aus eigener Kraft schaffen
müssen? Oder muss die Gesellschaft ihre Institutionen so gestalten, dass
Partizipation möglich ist?
Ich weiß aufgrund meiner eigenen Biografie genau, was es bedeutet, wenn
Chancengleichheit nicht ermöglicht wird. Es ist deshalb für mich ganz klar
Aufgabe der Politik, diese Möglichkeit herzustellen und Benachteiligung
aufzuheben. Aber es gehört dazu – und diese Aufgabe übernehme ich auch als
Integrationssenatorin –, gerade jungen Migrantinnen und Migranten zu sagen:
Strengt euch an! Ihr habt es nicht leicht, ihr müsst doppelt so gut sein
wie die anderen und euch doppelt so viel anstrengen, damit ihr auch
vorankommt. Und ich finde es nicht schlimm, sich anstrengen zu müssen. Das
gehört dazu, wenn man benachteiligt ist, das ist die Lebenswirklichkeit.
Aber man kann den Menschen nicht sagen, sie sollten sich anstrengen, wenn
man ihnen nicht die Chancen dazu gibt, wenn sie etwa per se bei Bewerbungen
diskriminiert werden. Da geht es mir um konkrete Perspektiven.
Sind die politisch leichter umzusetzen, wenn Sie sich auf ideologische
Debatten mit der CDU gar nicht erst einlassen?
Integrationspolitik ist nicht nur eine ideologische Auseinandersetzung um
den richtigen Weg. Es geht auch um pragmatische Ansätze. Den ideologischen
Streit führe ich da, wo er zu führen ist. Auch mit der CDU.
Sie sind eingeschult worden, ohne Deutsch zu können. Wie haben Sie das
erlebt?
Wir waren damals sehr wenige Kinder mit Migrationshintergrund auf meiner
Grundschule. Die Schulen waren noch nicht eingestellt auf Kinder, deren
Muttersprache nicht Deutsch ist. Im Unterricht wurde das absolut nicht
berücksichtigt. Man fiel durch das Raster, und das endete in den meisten
Fällen mit einer Hauptschulempfehlung.
Auch bei Ihnen?
Ja. Aber ich bin glücklicherweise auf eine Gesamtschule gekommen, habe dort
meine Sprachdefizite aufgeholt, Abitur gemacht und dann studiert. Ich war
eine Art Familienprojekt: Mein Vater ist 1963 als Tischler nach Deutschland
gekommen, hatte in der Türkei nur ein paar Jahre die Grundschule besucht,
meine Mutter ebenfalls. Sie hat hier in einer Textilfabrik gearbeitet. Ich
hatte nicht den Bildungshintergrund in der Familie. Meine drei älteren
Geschwister haben alle eine Berufsausbildung gemacht. Aber meine Idee,
Abitur zu machen und zu studieren, hat meine Familie sehr erfreut. Obwohl
sie mir beim Lernen nicht helfen konnten, haben sie sich sehr um mich
gekümmert. Sie haben den richtigen Rahmen geschaffen.
Solche auch demütigenden Diskriminierungserfahrungen wie die fast
automatische Hauptschulempfehlung – haben Sie das Gefühl, dass das von
Politikern, die so etwas nicht erlebt haben, verstanden wird?
Ja. Als ich 1995 in der Bezirksverordnetenversammlung Schöneberg
integrationspolitische Sprecherin war, habe ich es auch als meine Aufgabe
betrachtet, meine Genossinnen und Genossen für solche Fragen zu
sensibilisieren. Und ich war stolz, als ich irgendwann nicht mehr die
Einzige war, die etwa über Sprachförderung von Kindern gesprochen hat.
Sie haben sich aber später entschlossen, nicht Integrations-, sondern
Haushalts- und Finanzpolitik zu machen.
Ich habe irgendwann bemerkt, dass meine Partei mich verstärkt nur zu
integrationspolitischen Themen wahrgenommen hat. Da habe ich mir gesagt:
Ich bin doch nicht von Beruf Migrantin! Ich habe ja auch unabhängig von
meiner Herkunft Qualifikationen. Ich habe Wirtschaftsmathematik studiert
und bei einer Bank gearbeitet. Also habe ich mich auch politisch auf
Finanzfragen spezialisiert. Das gehört auch zu meinem Verständnis von
Integration: dass es Normalität wird, wenn man als Migrant in der
Finanzpolitik oder in anderen politischen Bereichen aktiv ist. Dass
Migrantinnen und Migranten auf Integrationspolitik reduziert werden, ist
nicht sehr fortschrittlich. Und ich bin zu einer Normalität in der
Finanzpolitik geworden.
Und jetzt sind Sie Integrationssenatorin.
Ja, das ist doch super!
Haben Sie damit Ihren Weg nicht wieder verlassen?
Nein. Der bedeutete ja auch nicht, dass ich mich weigere,
Integrationspolitik zu machen. Im Gegenteil: Ich konnte auch über Finanz-
über Haushaltspolitik Integrationspolitik mitbestimmen. Und ich bin auch
jetzt als Senatorin nicht nur für Integration zuständig. Ich habe das Amt
gerade in der Kombination mit den Themen Arbeit, berufliche Bildung und
Frauen sehr gerne übernommen. Integrationspolitik ist ja keine isolierte
Aufgabe: Es geht um Teilhabe, und diese Kombination birgt viele Ressourcen,
die zu besseren Chancen für viele Menschen führen.
Lassen Sie uns mal fünf Jahre vorausschauen: Was haben wir dann mit einer
Integrationssenatorin Kolat erreicht?
Ich möchte, dass sich die Arbeitsmarktchancen von Migrantenjugendlichen
dann erheblich verbessert haben, dass die Arbeitslosigkeit unter
Migrantinnen und Migranten deutlich niedriger ist als jetzt. Wir müssen das
Thema interkulturelle Öffnung nicht nur in der Verwaltung, sondern auch in
der Wirtschaft und in der gesamten Gesellschaft voranbringen. Der nächste
Schritt muss sein, Diversity …
… also die Vielfalt und Verschiedenheit in der Gesellschaft …
… als Prinzip zu verankern. Diversity wird Normalität im alltäglichen
Zusammenleben der Menschen hier, und Berlin wird frei von Rassismus sein!
Und wie wollen Sie den Wählerinnen und Wählern vermitteln, dass das
Erreichte der SPD zu verdanken ist?
Ich denke, dass die Wählerinnen und Wähler schon ganz genau zwischen SPD
und CDU unterscheiden können. Und es wird auch in Zukunft Unterschiede in
der Integrationspolitik zwischen uns geben. Wichtig wird sein, zu zeigen,
welche guten Ansätze die SPD vorangetrieben hat. Dass die CDU
interkulturelle Öffnung als wichtig erachtet, hätte man vor Kurzem nicht
gedacht. Das ist doch ein Erfolg, wenn wir bei solchen Themen einen
breiteren Konsens herstellen können.
12 Apr 2012
## AUTOREN
Alke Wierth
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