# taz.de -- Mosse-Lectures in Berlin: Die Gedanken müssen sich beeilen | |
> Diedrich Diederichsen und Rainald Goetz unterhielten sich anlässlich der | |
> Mosse-Lectures in Berlin über Zeitungen, Joggen und das Glück, überflutet | |
> zu werden. | |
Bild: Mal wieder wurde die Zeitung gelobt, wenn auch nicht diese. | |
BERLIN taz | Es ist schön, am frühen Abend vor der Humboldt-Uni | |
herumzustehen, da und dort Bekannte zu grüßen, als wäre man noch selber | |
Student. Die Bekannten sind aber auch keine Studenten mehr. | |
Teils hatte man sich vor einem Monat da und da gesehen, und so fühlte man | |
sich wie aufgehoben in einer Serie, als man im ersten Stock darauf wartete, | |
in den Senatssaal gelassen zu werden, wo der Dichter Rainald Goetz und der | |
zwischen Wien und Berlin pendelnde Professor Diedrich Diederichsen im | |
Rahmen der Mosse-Lectures über „mehr“ sprechen sollten. Der Saal war | |
überfüllt. Später sagte einer der Veranstalter, das Durchschnittsalter sei | |
etwa 15 Jahre niedriger als sonst. | |
Es war so schwül wie früher. Hinter dem Pult, an dem Goetz und Diederichsen | |
saßen, hingen großformatige Zeitungsausschnitte und ein Kassenzettel von | |
Rewe. Beide kennen sich seit 1982. Damals war der Dichter nach Hamburg | |
gefahren, um den jungen bewunderten Denker kennenzulernen. | |
Sie sprachen dreimal in je zwei zehnminütigen Abschnitten. Weil ein | |
morgendlicher Festplattencrash den Zeitplan durcheinandergebracht hatte, | |
las Rainald Goetz vom Papier, anstatt frei zu sprechen. Er sprach in einem | |
mittleren Tempo, das dem der Gedanken glich, die den Worten folgen wollten. | |
Die handelten von der Subjektserialität und der objektiven Serialität der | |
Medien, davon, dass das französische Wort journal zugleich Tagebuch und | |
Zeitung meint und dass das Tagebuch beides ist – Ich-Zuspitzung und | |
Ich-Auslöschung. „Das Tagebuch gibt den Leser frei“ und ist eigentlich | |
dialogisch. Nicht das Skandalöse sei das Interessante am Tagebuch, sondern | |
die Serialität des alltäglich Banalen und der Gestus der Direktheit im | |
Gestus der Abweichung. | |
## Nackt zur Arbeit gehen | |
Diedrich Diederichsen sprach aus einer anderen Position von den | |
Schamverwertungsprozessen der Kulturindustrie, die es gernhat, wenn die | |
Seele des Künstlers ganz nackt zur Arbeit geht. Er sprach viel schneller | |
als Goetz, sodass sich die Gedanken des Zuhörers ganz schön beeilen | |
mussten. Verwertungsprozesse haben ein schnelleres Tempo als das, was sie | |
verwerten. | |
Zwischen den Beiträgen versuchten sie das Gesagte miteinander zu vermitteln | |
und unterbrachen das Gespräch im Satz, als Goetz’ Uhr klingelte. | |
Der zweite Teil handelte von der Presse. Goetz, ein fanatischer | |
Zeitungsleser und Fan der Feuilletonpresseschau [1][www.perlentaucher.de], | |
sang ein Loblied auf die Tageszeitung, ihre Materialität, die den Geist | |
freigibt und die im Moment grad besonders interessant ist, weil sie unter | |
Rechtfertigungsdruck steht, weil sie eher schwach ist, doch „Schwäche | |
verbessert die Welt“. | |
Die Zeitung macht aus echten lebenden Menschen Figuren, die wir als Leser | |
begleiten und die viel interessanter sind als die Helden schöner Serien. | |
Das Objekt (nicht die Netzversion) Tageszeitung liefert „eine | |
Wirklichkeitserzählung, die unüberbietbare Qualitäten hat“. | |
## Kleistparkmenschen als Soapdarsteller | |
Diederichsen erzählte vom Laufen im Kleistpark und wie er die | |
Kleistparkmenschen als Darsteller einer Soap wahrnimmt. Und umgekehrt: Wie | |
er seine Runden dreht – und „die Drogendealer stoppen meine Zeit und | |
gratulieren mir zu schnelleren Runden“. | |
Im dritten Teil sprach Goetz über „mehr“. Über mehr Zeitung und das Glück | |
überflutet zu werden, im Meer (= mehr) dessen, was einen anspricht, über | |
die Ich-Entfernung und Unsouveränität, die das erzeugt und die zu begrüßen | |
ist, über die kommende liquide Informationsverarbeitung, an der die Piraten | |
arbeiten – „vielen Dank auch dahin!“. | |
Und beschimpfte noch ein bisschen den Spiegel nach einer unangenehmen | |
Erfahrung: „Das sind Aparatschiks, einer scheußlicher als der andere!“ | |
Und Diederichsen sang am Ende das Lied „I Need More“ von Iggy Pop. | |
Dann zerstreuten wir uns wieder. | |
4 May 2012 | |
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[1] http://www.perlentaucher.de | |
## AUTOREN | |
Detlef Kuhlbrodt | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Nationalsozialismus | |
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