# taz.de -- Antrittsvorlesung von Rainald Goetz: „Schreiben heißt Atmen“ | |
> Der Schriftsteller Rainald Goetz hielt am Donnerstag seine | |
> Antrittsvorlesung an der FU Berlin. Er sprach über Schreiben-über, das | |
> „weise Orakel“ Internet und Spiegelneuronen. | |
Bild: „Leben und Schreiben“ – das sind die Themen von Goetz. | |
Es ist komisch, nach fast 20 Jahren, wieder zur FU zu fahren. Außerdem | |
gibt's Schienenersatzverkehr. Ich schwitze, weil es heiß ist und aus Angst, | |
zu spät zu kommen. Mir gegenüber in der Bahn sitzt Justus Köhncke und tippt | |
in sein Smartphone. Toll, dass er auch zur Antrittsvorlesung von Rainald | |
Goetz fährt. Er steigt aber irgendwann aus. Vielleicht war es doch nicht | |
der Whirlpool-Musiker. | |
Dahlem riecht super. Laufend erinnere ich mich daran, wie ich mich vor 20 | |
Jahren hier oft verlaufen hatte, wenn ich es besonders eilig hatte. Da | |
hinten ist die FU - Juchhu! Langsam füllt sich der Hörsaal 1b. Er sieht | |
noch genauso aus wie vor 20 Jahren. Es sind wohl 350 Zuhörer. Gegen sechs | |
schreibt der Dichter und Heiner-Müller-Ehrenprofessor Rainald Goetz den | |
Titel an die Tafel: „Leben und Schreiben - der Existenzauftrag der Schrift“ | |
und zieht sich dann wieder zurück. | |
Gegen viertel nach sechs hält Professor Georg Witte als Vertreter des | |
Peter-Szondi-Instituts eine Einführung, die von „Irre“ und „Loslabern“ | |
handelt, vom Dabeisein und am Rande stehen und davon, dass man Rainald | |
Goetz schon immmer toll fand. Ende der 80er hatte es bei den Germanisten | |
schon die ersten Seminare über „Irre“ gegeben und wir hatten das komisch | |
gefunden. | |
## „Hier spricht der 10. Mai 2012“ | |
Dann tritt Rainald Goetz auf die Bühne – „hallo Berlin!“ –, fotografie… | |
wird zurück fotografiert und beginnt – „Hier spricht der 10. Mai 2012“ �… | |
mit der Schilderung des Tages, den Menschen, die neben einem auf der Straße | |
stehen und doch „komplett anders unterwegs sind“, dem Satz der | |
Rewe-Verkäuferin „nun sind Sie mal nicht so hektisch, junger Mann“, geht | |
über zum zweiten von insgesamt zwölf Teilen seiner Rede, der vom | |
Schreiben-über handelt. „Schreiben heißt veröffentlichen“, heißt, den | |
eigenen Text lesen, der immer etwas anderes sagt, als man eigentlich will, | |
„Schreiben heißt Atmen“. | |
Goetz erinnert an den kurzen Sommer der Popliteratur. Spricht über die | |
Schreibexplosion der letzten Jahre via Internet, SMS usw., darüber, wie die | |
Fremdheit zwischen Ich und Welt via Facebook usw. formelhaft zugekleistert | |
und ausgebeutet werde, wie die Wertschätzung des Geschriebenen durch die | |
ganzen RSS-Reader-Alarme verhindert wird. Andererseits: Man kann das | |
Internet immer noch als „das weise Orakel benutzen“. | |
Goetz spricht mit großem körperlichen Einsatz und wirft oft den Kopf in den | |
Nacken. Er geißelt die Annahme, der Dichter könne den Studierenden das | |
Schreiben beibringen, spricht über den Defekt als Produktionsmittel und den | |
Dämon, der es ihm verunmögliche, „so zu leben, wie ich will“, der wie der | |
Todestrieb nur Ruhe will. Erzählt vom Besuch des Dorotheestädtischen | |
Friedhofs, dem Grab Heiner Müllers; „Möge sein Geist bei uns sein!“ | |
## „Diese kleinen schwarzen Dinger“, die Buchstaben | |
Nun sind wir schon im neunten Teil, der vom Lesen handelt, vom Gucken auf | |
„diese kleinen schwarzen Dinger“, die Buchstaben, vom verletzlichen | |
Sprachgefühl, dass durch das Lesen schlechter Texte beschädigt wird. Von | |
der Voraussetzungslosighkeit des Schreibens. Von Spiegelneuronen und davon, | |
dass Mitgefühl „die frohe Botschaft der Literatur“ ist, vom „der | |
Selbstverbesserungsimperativ der Schrift“. | |
Die beste Schule des Schreibens sei der Journalismus. Sein Seminar soll | |
keine „literarische Werkstatt für Nachwuchsschriftsteller“ sein, sondern | |
eher eine „Aufmerksamkeitsübung für Weltverhältnisse und Probleme der | |
Interaktion“. Nicht 17 wie von Uniseite geplant, sondern 45 Studenten | |
werden daran teilnehmen. | |
Der Beifall ist groß. Viele fühlen sich nach der Vorlesung ermutigt. Manche | |
beneiden die Studenten, die an seinem Seminar teilnehmen werden. Lange | |
steht man in Gruppen noch draußen und träumt davon, wie schön es wäre, jede | |
Woche so zusammen zu stehen und denkt an den Satz: „Mein Geist ist ein | |
kaputtes Gerät“. | |
11 May 2012 | |
## AUTOREN | |
Detlef Kuhlbrodt | |
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