# taz.de -- Kolumne Das Tuch: Salafismus als Ausweg | |
> Wer ist ein „echter“ Muslim? Darüber wird unter Muslimen heftigst | |
> gestritten. | |
In den Monaten vor ihrem Verschwinden schaute sich Seher stundenlang Videos | |
von islamischen Predigern im Internet an. Anfangs ist die religiöse | |
türkische Familie unbesorgt. Dann distanziert sich Seher immer mehr von | |
ihren Eltern. Schließlich kritisiert sie ihren Vater, er würde sein Geld | |
unislamisch verdienen. In diesem Haushalt könne sie deshalb nicht Essen, | |
nicht Trinken, das sei nicht halal, nicht islamkonform. Dann verschwindet | |
sie. | |
Zwei Wochen später erreicht die Familie dann ein Anruf von einer | |
salafitischen Gemeinde in Mönchengladbach. Die Tochter sei gesund und | |
wohlauf. Sie sollen sich keine Sorgen machen, Seher sei bei ihnen | |
untergekommen. Selbstverständlich werde man sich bemühen, sie nach Hause zu | |
schicken, sagt das Gemeindemitglied am Telefon. Aber – das müsse auch | |
gesagt werden – die Tochter habe recht. Der Vater solle sich eine neue | |
Arbeit suchen. | |
Sehers Geschichte ist eine von vielen, die mir ein muslimischer Soziologe | |
erzählt. Er betreut Familien, die sich hilfesuchend an ihn wenden. | |
Familien, die nicht wissen, wie sie mit dem Salafismus und der neu gewonnen | |
Religiosität ihrer Kinder, die so anders als ihre ist, umgehen sollen. | |
Für Nurhan sind diese Geschichten nichts Neues. Sie ist engagierte | |
Schulsprecherin, erfolgreiche Schülerin und religiös praktizierende | |
Muslimin. Lange war sie eine der wenigen Kopftuchträgerinnen auf ihrem | |
Gymnasium, heute sind es deutlich mehr. Und denen ist Nurhan heute nicht | |
islamisch genug mit ihrem bunten Kopftuch, der hellen Kleidung und ihrer | |
Freude am Kontakt zu Frauen wie Männern; deshalb wird sie schon mal „Muslim | |
light“ geschimpft. | |
Es ist Abiball-Zeit. Die Stufe diskutiert mit einem Lehrer die Organisation | |
des Abends, Thema ist Alkohol. Weil viele Muslime in der Stufe sind, | |
plädiert Nurhan dafür, erst ab der zweiten Hälfte des Abends Alkohol | |
auszuschenken, kurz vor dem Partyteil. Zwei Sitze entfernt sitzt Hamza. | |
„Ich dachte, du wärst eine richtige Muslimin“, sagt er zu Nurhan. „Warum | |
sagst du das?“, fragt sie. „Wenn man in einem Raum so eng mit so vielen | |
Frauen und Männern sitzt, im Haus des Shaytan (des Teufels), was passiert | |
dann mit deinem Iman (Glauben)?“ Wer zum Abiball gehe, sei ein Munafiq, ein | |
Heuchler. Nurhan ist verletzt, leise versucht sie, sich zu wehren. | |
Dann ruft der Lehrer alle, die nicht zum Abiball kommen, dazu auf, sich vor | |
die Stufe zu stellen und zu rechtfertigen. Als niemand aufsteht, tut es | |
Nurhan. „Das können Sie nicht verlangen“, sagt sie dem Lehrer, „der Abib… | |
ist keine Pflichtveranstaltung. Es gibt einige, die können es sich | |
finanziell nicht leisten, andere, die aus religiösen Gründen nicht wollen. | |
Sie können sie doch nicht vor den anderen bloßstellen“, kritisiert sie. | |
„Ich will vermitteln“, sagt Nurhan und wird dabei zerrieben. Da sind die | |
Lehrer, die über die „Islamisierung“ der Schule schimpfen und spöttisch | |
über die muslimischen Schüler herziehen, und die Klassenkameraden, die | |
Nurhan vorschreiben wollen, wie sie den Islam zu leben habe. „Aber die | |
Salafisten haben auch viel Gutes gemacht“, sagt sie. „Sie haben viele von | |
der Straße und aus der kriminellen Szene geholt. Sie haben ihnen | |
Zusammenhalt geboten, wie eine Familie.“ Statt die Salafisten zu | |
kritisieren, müssten die übrigen Muslime eine Alternative anbieten, sagt | |
sie. Bis dahin werde sie sich zerreiben lassen müssen. | |
17 Jun 2012 | |
## AUTOREN | |
Kübra Gümüsay | |
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