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# taz.de -- Kolumne Das Tuch: 40 Kilo Fremdschämen
> Die türkische Großfamilie reist wie eine Hilforganisation. Das muss doch
> mal aufhören!
Kennen Sie diese türkischen Großfamilien, die mit etlichen Koffern, zig
Kartons, Rucksäcken und Taschen am Flughafen stehen und ewig lange am
Flughafenschalter mit dem Personal diskutieren? Ich kenne sie. Und kennen
Sie die pubertierende Tochter der Großfamilie, die ihr Gesicht beschämt in
einem Buch vergräbt? Das war ich.
Jedes Jahr die gleiche Tortur. Ich stand etwas abseits, las und versuchte
möglichst unbeteiligt auszusehen. Ab und an schüttelte ich meinen Kopf,
trat unauffällig einen weiteren Schritt zur Seite. Und bewunderte dabei aus
dem Augenwinkel das Verhandlungsgeschick meines Vaters, der so lange mit
der Frau am Schalter redete, bis sich unsere vierzig Kilo Übergepäck in
Nichts auflösten. Blieben nur noch die vielen Rucksäcke, Taschen und
Handkoffer. Die standen gut versteckt außerhalb der Sichtweite der
Flughafenfrau.
Ich hatte versucht, es zu verhindern – mit Nörgeln. Beim Einpacken fing ich
an. „Warum“, fragte ich meine Mutter, „müssen wir denn so viel mitnehmen…
und zeigte auf die sich stapelnden Gemüsekartons. Die Hälfte unseres
Gepäcks war befüllt mit Gurken, Paprika, Gewürzen, Tee, Baklava, Trauben,
Feigen, Orangen und Olivenöl. „Als ob es diese Sachen nicht auch in
Deutschland gibt. Da kannst du das alles doch auch kaufen“, nervte ich
weiter. Sie sollte endlich zur Vernunft kommen.
Kam sie aber nicht. Meine Mutter war nörgelresistent. Die von meinem
Großvater liebevoll handgepflückten Gurken, Paprika, Trauben, Feigen,
Orangen, das natürliche Olivenöl aus dem Garten unseres Ferienhauses, die
Gewürze, die meine Oma höchstpersönlich für meine Mutter getrocknet hatte
und die besten Baklava der türkischen Urlaubsstadt wurden in Kartons
verstaut und zum Flughafen transportiert.
## „Nur einmal Urlaub mache wie die anderen“
„Das hat mit Sehnsucht zu tun“, sagte meine Mutter. Ich verstand das nicht.
Im Auto lehnte ich mich entnervt auf den Gurkenkarton und nörgelte weiter:
„Können wir nicht einmal, nur einmal Urlaub machen wie die anderen?“ Nur
einmal, wünschte ich mir, elegant das kleine Gepäck über den glänzenden
Flughafenboden zu tragen, statt die groben großen Gepäckwagen mit Mühe
durch die Menschenmenge zu schieben.
Einmal nicht als letzte Familie am Gepäckband in Hamburg stehen und auf
unseren Karton warten, unsicher, ob er nicht schon irgendwo unter dem
Kofferhaufen auf einem der Gepäckwagen steckt. Und einmal nicht bestürzt
feststellen, dass das Olivenöl ausgelaufen ist, und dem Fleck hinterher
starren, der riesig groß auf dem Gepäckband glänzt. Einmal nicht so
aussehen, als würden wir Hilfsgüter zu einer Katastrophe ungekannten
Ausmaßes transportieren.
Letzte Woche stand ich am Hamburger Flughafen am Schalter, ich war auf dem
Weg zurück nach Oxford. Mein Koffer enthielt die Tarhana-Suppenmischung
meiner Großmutter, handgefertigtes Paprikagewürz meiner anderen Großmutter,
einen großen Vorrat an deutschem Gouda, türkischem Käse, deutscher
Schokolade, natürlich Lakritze und noch einiges mehr.
Mein mindestens fünfzehn Kilo schweres und mit Büchern vollgestopftes
Handgepäck stand gut versteckt und außerhalb der Sichtweite der
Flughafenfrau bei meinem Vater. Als ich meinen Koffer erfolgreich ins
Flugzeug verhandelt hatte und auf ihn zuging, grinste er. Wir wussten
beide: Das hat mit Sehnsucht zu tun.
10 Sep 2012
## AUTOREN
Kübra Gümüsay
## TAGS
Schwerpunkt Rassismus
Familie
taz.gazete
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