# taz.de -- Pro und Contra: Gibt es guten Boulevard? | |
> Am Sonntag wird Deutschlands größte Zeitung 60 Jahre alt. Die "Bild" | |
> prägt den hiesigen Boulevardjournalismus. Wäre er auch ohne Niedertracht | |
> möglich? | |
Bild: Boulevard – Straßenfeger oder für die Gosse? | |
## Pro | |
Natürlich gibt es guten Boulevard. Alltagsgeschichten, Geschichten von der | |
Straße, engagiert aufgeschrieben oder gesendet. Eingängig und für Leser- | |
oder ZuschauerInnen sofort und einfach zu verstehen. Drastisch und | |
zugespitzt geschildert, dabei nicht unzulässig übertrieben oder durch | |
Weglassung manipuliert. Günter Wallraff, zum Beispiel. | |
Wie bitte – ausgerechnet Wallraff? Genau, ausgerechnet Günter Wallraff. Er | |
vereint in seinen Undercover-Reportagen alle Elemente des guten Boulevards: | |
Wallraff berichtet packend und persönlich. Er skandalisiert, was Skandal | |
ist – von unhaltbaren Arbeitsbedingungen in Backfabriken oder bei | |
Paketfahrern bis zum Einsatz bei einer großen deutschen Boulevardzeitung | |
vor mittlerweile 35 Jahren. | |
Denn was macht guten Boulevard aus? Zunächst mal: Haltung. Haltung, die | |
klar offenbart wird. Und die nicht versucht, sich den Konsumenten pauschal | |
als dessen eigene, angeblich gesunde Volksmeinung unterzuschieben. Das | |
wiederum betreibt Bild seit rund 60 Jahren, und noch immer fällt gerade die | |
Politik gern drauf rein. Es geht vielmehr um die konkrete Haltung des | |
Blattes, des Autors; als Angebot an die LeserInnen, sich mit dieser Haltung | |
auseinanderzusetzen. | |
Und sich – wenn es passt – damit zu identifizieren. Mit Geschichten, die | |
berühren, weil jedeR durch sie ganz real berührt wird – weil ihn oder sie | |
eben auch dasselbe Schicksal treffen könnte. Oder weil die LeserInnen – | |
ohne dass sie es bislang hatten wissen wollen – selbst Teil der Geschichte | |
sind. | |
Guter Boulevard berührt, ohne die Emotionalisierung nur als billiges Mittel | |
zum Zweck einzusetzen. Empörung, Mitleid, Scham, Wut – menschliches | |
(manchmal auch tierisches) Schicksal am konkreten Beispiel, als Türke Ali, | |
Fließbandbäcker oder Obdachloser, sagt mehr aus als Zahlenkolonnen, | |
Statistiken und Integrations- oder Armutsberichte. Und weil die Themen des | |
guten Boulevards jeden angehen, kommt er an sich auch ohne | |
„Witwenschütteln“ aus. | |
Ohne dieses „Doch noch Fotos der mit dem Bus tödlich verunfallten | |
Schulkinder“-Besorgen, weil sich angeblich nur beim Anblick der über die | |
Titelseite gedroschenen kleinen unschuldigen Gesichter das wahre Ausmaß der | |
Tragödie vermitteln lässt. Guter Boulevard hat diese Ranschmeiße nicht | |
nötig. | |
Und dann ist da noch die dritte Maxime: Aufrütteln, für Veränderung | |
streiten, unhaltbare Situationen, Arbeits- oder gar Lebensbedingungen | |
vielleicht verändern helfen. Keine „Kanzler, komm runter, mach Deutschland | |
munter“-Nummern, auch kein billiger „Spritpreis-Senkung sofort!“-Lobbyism… | |
für geschundene Autofahrerseelen. Sondern Veränderung, die im besten Fall | |
durch Einsicht beginnt – nicht durch die Furcht vor einem vermeintlichen | |
Agendasetter mit Millionenreichweite. | |
Dieser gute Boulevard findet übrigens auch im Fernsehen statt, manchmal | |
sogar Grimme-Preis-verdächtig. Nicht in „taff“ und „Brisant“ und den | |
anderen Derivaten von „Bild-TV“. Sondern zum Beispiel in der „Kik-Story“ | |
des NDR über die Zusammenhänge zwischen Billigklamotten beim | |
Bekleidungsdiscounter um die Ecke und den Arbeitsbedingungen in Indien, | |
Bangladesch und anderswo. Natürlich ließe sich das auch ganz nüchtern mit | |
Zahlenkolonnen, Tabellen und Grafikcharts abbilden. | |
Natürlich geht manchem TV-Kritiker ein leicht überengagiert wirkender | |
Presenter-Reporter namens Christoph Lütgert auf den Zeiger. Wenn sich | |
dieser zuerst für kleines Geld groß einkleidet und dann auf | |
Ursachenforschung geht. In Slums die Näherinnen und ihre Kinder trifft, | |
natürlich überspitzend, einen sterbenden Jungen. Nicht alle Näherinnen sind | |
Mütter schwerkranker Knaben unter 14, so viel ist klar. Hier aber völlig | |
egal. Denn dem größten Teil des Publikums zeigt genau dieser Film in seiner | |
Zuspitzung und dieser Lütgert in seiner persönlichen Betroffenheit, dass | |
auch sie persönlich betroffen sind. | |
Dies alles ist übrigens Qualitätsjournalismus, was zum Schluss noch eine | |
andere Frage aufwirft: Ist die taz eine Boulevardzeitung? Die Antwort fällt | |
verhältnismäßig leicht – sie lautet: Warum nicht? Steffen Grimberg | |
## Contra | |
Wir müssen uns von dem Gedanken verabschieden, dass es den guten Boulevard | |
gibt. Und „gut“ ist in diesem Fall keine Frage von rechts und links. Bild | |
ist nicht deshalb eine schlechte Zeitung, weil sie eher rechts ist. „Gut“ | |
ist auch kein Urteil aus kultureller Überheblichkeit. Nicht die Einfachheit | |
der Bild - und ihrer Leser - ist das Problem. Im Gegenteil: Dass der | |
Boulevard reduziert, Dinge auf den Punkt bringt, lesbare Sätze formuliert, | |
ist ein lobenswerter Dienst am Leser. Nicht die kurzen Sätze sind das | |
Problem. | |
Nein. | |
„Gut“ ist schlicht als moralische Kategorie zu verstehen. Und in diesem | |
Sinne kann eine Boulevardzeitung nicht gut sein, wenn sie gleichzeitig | |
erfolgreich sein will. Die Messlatte ist Bild. Sie setzt die moralischen | |
Standards, die es zu unterbieten gilt. | |
Sie spricht die Lust an den Schwächen anderer an, die Angst vor dem | |
Unbekannten, den Hang zur Rache und zur Selbstjustiz, den Genuss der | |
Niedertracht, den Unwillen zur Vergebung, den Ekel, die Furcht vor | |
materiellem Verlust, den Neid. | |
Wir haben diese Gefühle in uns. Der Boulevard weiß das und zielt darauf wie | |
eine Lenkrakete. Das ist die Dialektik des Boulevards: Er kann nur gut | |
sein, das heißt erfolgreich, wenn er schlecht ist, also niederträchtig. Wo | |
lernt man so etwas? | |
Der Axel-Springer-Verlag hat eine Journalistenschule, die | |
Axel-Springer-Akademie. Vor Kurzem gratulierte die Akademie einem Schüler | |
auf ihrer Facebook-Seite; er hatte in seinem Praktikum bei Bild eine | |
Schlagzeile recherchiert. Es ging um einen Radiomoderator, er soll sich des | |
Missbrauchs einer Minderjährigen schuldig gemacht haben. Bild zeigte ihn | |
auf der Titelseite und fragte: „Neue Vorwürfe gegen ,Ostseewelle'-Moderator | |
- Ist er auch Gewinnspielbetrüger?“ „Auch“ - als sei der Missbrauch län… | |
bewiesen. Es ist dem Bildblog zu verdanken, dass Bild nicht unbeobachtet | |
bleibt. So hat er auch das Gratulationsschreiben der Springer-Akademie auf | |
Facebook entdeckt. | |
Zorn gegen Männer zu schüren, die sich des Missbrauchs schuldig gemacht | |
haben sollen, ist ein Kerngeschäft des Boulevards. Bild „übernimmt“ den | |
Fall - lange bevor die Ermittlungsbehörden die Chance haben, den Verdacht | |
zu erhärten, und noch länger bevor ein Gericht ein Urteil spricht. Der | |
Rechtsstaat ist vielen zu langsam, zu milde, zu zögerlich. Sie vertrauen | |
auf die Parastaatlichkeit des Boulevards. Es kommt mitunter vor, dass die | |
Bild-Zeitung ihre Interviews ganz unverhohlen „Verhör“ nennt. | |
Das Prinzip, das dahinter steht, heißt Dorfjustiz. Friedrich Dürrenmatt hat | |
ein Buch darüber geschrieben: „Das Versprechen“. Da gipfelt die | |
Selbstjustiz einiger Dorfbewohner darin, dass sie einen Unschuldigen an | |
einen Traktor hängen und in Gülle tauchen. Weil eben alles danach aussieht, | |
dass er es war. Und weil es um den Tod eines Mädchens geht. Die Wut gegen | |
den Täter kann jeder nachvollziehen. Der Boulevard schlägt daraus Kapital. | |
Auch in Emden ging es im März um den Tod eines Mädchens, die Polizei nahm | |
zunächst einen 17-jährigen fest, die Bild präsentierte ihn auf der | |
Titelseite als Täter. Die Polizei ließ den Jungen wieder frei. Bild | |
berichtete daraufhin scheinheilig vom Lynchmob, der in der Stadt tobte. Als | |
habe sie nichts damit zu tun. | |
Es sind Gefühle, die den Boulevard antreiben und am Leben halten. Er | |
richtet sich an eine Gemeinde der Rechtschaffenen - und gegen alles, was | |
anders ist. Er schafft Gegner und Helden, Sieger und Besiegte, Anführer und | |
Außenseiter, er jubelt, schreit, schimpft, schwitzt. Das muss nicht immer | |
gefährlich sein, oft ist es auch nur skurril. | |
Als zwei Bild-Reporter vor einigen Wochen den Henri-Nannen-Preis bekamen | |
und drei Redakteure der Süddeutschen daraufhin eine Auszeichnung ablehnten, | |
da erkannte ein Kritiker darin die „Arroganz der Arrivierten“. Dass Bild | |
ein „Scheißblatt“ ist, wie Hans Leyendecker treffend formuliert, ist jedoch | |
keine philosophische Erkenntnis. Man muss auch nicht Hans Leyendecker sein, | |
um zu diesem Urteil zu kommen. Die Kritik am Boulevard verlangt keinen | |
Intellekt. Sondern Mitgefühl. Felix Dachsel | |
22 Jun 2012 | |
## AUTOREN | |
S. Grimberg | |
F. Dachsel | |
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