# taz.de -- Friedenspreis des Deutschen Buchhandels: Chronist seiner Generation | |
> Der chinesische Dichter Liao Yiwu erhält den Friedenspreis. Für seine | |
> Werke, seine Sprachmacht, seinen Mut. Momentan lebt er als Exilant in | |
> Deutschland. | |
Bild: Liao Yiwu wird den Preis im Oktober auf der Frankfurter Buchmesse erhalte… | |
BERLIN taz | Erst vor ein paar Wochen saß der chinesische Autor Liao Yiwu | |
mit Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller in der Berliner Schaubühne zum | |
wiederholten Male auf einem Podium. Thema des Abends war die Angst, der | |
ständige Begleiter in totalitären Regimes wie denen Rumäniens vor 1989 und | |
Chinas bis heute. | |
Und während die aus dem Banat stammende Herta Müller, die vom Geheimdienst | |
verfolgt wurde und 1987 nach Deutschland ausreisen konnte, weit ausholte | |
und lang über ihr kompliziertes „Wühlen“ und das „Gezerre“ sprach, das | |
entsteht, wenn man die Angst mit den Mitteln der Sprache zu bezwingen | |
versucht, konterte Liao Yiwu eher trocken. „Du bist halt eine Frau“, sagte | |
er irgendwann sogar augenzwinkernd. „Wir Männer interessieren uns eher für | |
die platte Wirklichkeit.“ | |
Was Liao Yiwu mit viel chinesischem Machismo und einer erfrischenden Prise | |
Selbstironie anzudeuten versuchte, war das: Liao Yiwu ist ein Dokumetarist, | |
ein Chronist – und dies macht ihn zu einer der wichtigsten und | |
eindrucksvollsten Stimmen der chinesischen Gegenwartsliteratur. In einem | |
Interview sagte er einmal, er sei das Aufnahmegerät seiner Generation. | |
Geboren 1958 in der westchinesischen Provinz Sichuan, wäre er als Baby | |
während der großen Hungersnot in China (1958-1962) fast verhungert. Wie | |
viele andere zur Zeit der Kulturrevolution besuchte auch Liao die Schule | |
nicht regelmäßig. Er schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch, als | |
Lastwagenfahrer oder Koch. Dann fing er an Gedichte zu schreiben, aber nie | |
explizit politisch. Doch nach dem Massaker am Platz des Himmlischen | |
Friedens 1989 veröffentlichte Liao Yiwu eines seiner kraftvollsten das | |
Gedichte „Massaker“. Es fand schnell Verbreitung und Liao Yiwu kam vier | |
Jahre ins Gefängnis. Er erkannte, dass es in China nichts gibt, das | |
überhöht werden muss – dass man die größte Wucht erzielt, wenn man die | |
vielen Auswirkungen der großen Geschichte auf ihre Subjekte beschreibt, die | |
kleinen Geschichten also, die sonst eher unter den viel beschriebenen | |
Teppich gekehrt werden. Denn nach wie vor werden Erinnerungen, besonders | |
die unbequemen, in China zerstört und verwischt. | |
## Er hört auf „Volkes Stimme“ | |
Seiner Zeit im Gefängnis hat Liao Yiwu es nach eigenen Aussagen zu | |
verdanken, dass er begann, auf „Volkes Stimme“ zu hören. Er führte | |
narrative Interviews mit Menschen vom „Bodensatz der chinesischen | |
Gesellschaft“. Die befragten Einbrecherkönige, Mönche, Straßenmusiker, | |
Klomänner und Prostituierten nehmen kein Blatt vor den Mund und äußern sich | |
erstaunlich urteilsfähig, selbstbewusst und schlagfertig zur Lage im Land. | |
Das Buch „Fräulein Hallo und der Bauernkaiser“, das diese Gespräche | |
enthält, erschien in Deutschland 2009. Liao durfte zunächst nicht aus China | |
ausreisen, um es hier vorzustellen. | |
Als 2011 sein zweites Buch, „Für ein Lied und hundert Lieder“, seine | |
Erinnerungen an die Gefängnisjahre, erscheinen sollte, drohten ihm Chinas | |
Regierende, ihn wieder einzusperren. Liao Yiwu, dessen Schriften in China | |
nur kennt, wer sich auf dem Schwarzmarkt oder im Internet umtut, reiste | |
2011 auf unbestimmte Zeit nach Deutschland aus. Im November bekam er für | |
sein Gefängnisbuch den Geschwister-Scholl-Preis, der deutsche | |
Literaturbetrieb hofiert den Autor, derzeit ist er Stipendiat des DAAD. | |
Was in der Wertschätzung Liao Yiwus als mutiger Dissident oft untergeht, | |
das ist die Wirkung seiner Sprache. Diese erwischt auch jene, die bislang | |
wenig mit China am Hut hatten. Sie herzustellen ist eine hohe Kunst, denn | |
selbst ein Realist wie Liao Yiwu weiß, dass man Wirklichkeit niemals | |
abschreiben, sondern nur evozieren kann. Es gibt Stellen in seinem viel | |
verkauften Gefängnisbuch über den chinesischen Gulag, da wird dem Leser | |
physisch übel. Liao Yiwu erklärt und rationalisiert nichts. Auch will er | |
keine minimalistische, lakonische Sprache. Vielmehr gelingt es ihm, den | |
Leser in die Überwältigung seiner Person, ins Anschreiben gegen Folter und | |
seelische wie körperliche Vernichtung mitzunehmen. | |
## Bürde und Glück zugleich | |
In einer Besprechung des Buches vermutet Herta Müller, Liao habe unter | |
einer Art Beobachtungszwang gelitten. Dieser Zwang sei ihm Bürde und Glück | |
zugleich gewesen. Denn er habe es ihm erlaubt, sich neben seine Person zu | |
stellen, ohne dabei wegzusehen. Wer weiß, wie sich heute China trotz aller | |
nicht zu leugnenden Probleme anfühlen kann – dass sich das Leben besonders | |
in den chinesischen Metropolen heute kaum mehr von dem in westlichen | |
unterscheidet und dass es dort immer mehr Menschen gibt, die einigermaßen | |
bequem, sorgenfrei und informiert leben – den kann die Lektüre Liao Yiwus | |
bis ins Mark erschüttern. | |
In einem Interview, das Liao Yiwu bei seiner ersten Ausreise nach | |
Deutschland im Berliner Hotel Bleibtreu gab, sagte er: „Ich finde in China | |
im Moment nicht viele Bücher, die mich interessieren. Keins ist so | |
schockierend wie die Wirklichkeit. Die meisten Autoren machen ihre | |
Hausaufgaben nicht.“ Wie sehr Liao Yiwu die seinen macht, das kann man im | |
Herbst wieder nachlesen. Dann werden gleich zwei neue Bücher erscheinen: | |
„Die Kugel und das Opium – Leben und Tod am Platz des Himmlischen | |
Friedens“, das Gespräche mit Angehörigen und Opfern des Massakers auf dem | |
Platz des Himmlischen Friedens erhält und „Erinnerung, bleib ...“, ein Buch | |
mit Essays und beiliegendem Film des Autors zum Thema Gedächtnis. | |
21 Jun 2012 | |
## AUTOREN | |
Susanne Messmer | |
Susanne Messmer | |
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Schwerpunkt Überwachung | |
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