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# taz.de -- Debatte Frankfurter Friedenspreis: Das Risiko des Zerfalls
> Liao Yiwu hat recht mit seiner Kritik an Menschenrechtsphrasen. Aber ein
> Zerbrechen Chinas gäbe keinen Grund zur Hoffnung.
Bild: Liao sieht im gegenwärtigen zentralisierten chinesischen Parteistaat die…
[1][Die Rede], mit der sich der ins deutsche Exil gezwungene chinesische
Schriftsteller und Demokrat Liao Yiwu für den Frankfurter Friedenspreis
bedankt hat, wirft ein paar beunruhigende Fragen auf.
Kann es eine Brücke geben zwischen Liaos radikalem Postulat, dass das
chinesische Imperium „auseinanderbrechen“ müsse und einer „westlichen“
Politik, die mit dem Anspruch auf realistische Prognosen auftritt? Und
folgt aus Liaos Verurteilung der florierenden Geschäftsbeziehungen „des
Westens“ mit China eine Möglichkeit, wie die westlichen Staaten die
chinesischen Demokraten künftig wirksamer unterstützen könnten?
In der veröffentlichen deutschen Meinung nach der Rede Liaos dominiert eine
Haltung, die man mit „pflichtgemäß gerührt sein und dann schnell vergessen…
beschreiben könnte. Zwischen der Welt des Dichters und der Welt politischer
Notwendigkeit gebe es keine Vermittlung. Dem muss widersprochen werden.
Liao äußert sich politisch und hat jedes Recht auf Auseinandersetzung mit
seinen Thesen – und damit auch ein Recht auf Kritik.
Liao sieht im gegenwärtigen zentralisierten chinesischen Parteistaat die
Quelle aller Unterdrückung und Ausbeutung. Er begnügt sich aber nicht
damit, für den Gesamtstaat eine demokratische Verfassung und
Rechtsstaatlichkeit einzufordern. Auch eine Dezentralisierung, die den
Basiseinheiten politische Macht überträgt, scheint ihm nicht hinreichend.
Nur in der Zerschlagung des Großreichs sieht er die Gewähr für ein
zukünftiges gutes Zusammenleben.
## Bittere Erfahrung mit dem Zerfall des Zentralstaats
Liao stützt diese These mit einem Rekurs auf die angeblich harmonischen
Zeiten in China vor der erzwungenen zentralstaatlichen Reichseinigung durch
Kaiser Qin Shi Huang Di im Jahr 204 vor unserer Zeitrechnung. Ein Ausflug
Liaos in den Mythos, der die bitteren Erfahrungen außer Acht lässt, die
Chinas Bevölkerung im 19. und 20. Jahrhundert mit den Folgen des Zerfalls
zentralstaatlicher Autorität gemacht hat.
Gründete sich die Legitimation kommunistischer Herrschaft nach 1949 nicht
gerade auf die Wiederherstellung von Staatlichkeit und territorialer
Integrität? Die Angst in der Bevölkerung vor einem erneuten
Auseinanderfallen des Staates zeugt jedenfalls von einem anhaltenden
Trauma.
Das Auseinanderfallen des chinesischen Imperiums zu prognostizieren (und zu
begrüßen) wird auch den europäischen Erfahrungen im 20. Jahrhundert nicht
gerecht. Man denke an das jüngste Beispiel aus der Katastrophenkette: Eine
demokratische Föderation der jugoslawischen Staaten, wie sie die bosnische
Führung vorschlug, scheiterte.
Als Konsequenz brach der Bürgerkrieg aus; dessen Resultat, die
gegenwärtigen Nationalstaaten Exjugoslawiens, blieben weit hinter dem
demokratischen Versprechen ihrer Gründung zurück.
## China ist kein kein Vielvölkerstaat
Schließlich gilt es gegen Liaos Prognose zu bedenken, dass China in seiner
gegenwärtigen Gestalt kein Vielvölkerstaat ist, wie es beispielsweise die
Sowjetunion war. Neunzig Prozent der Bevölkerung bestehen aus Han-Chinesen,
die bei aller territorialen Unterschiedlichkeit eine gemeinsame Kultur,
Sprache, Geschichte und Zivilisation als ein sehr starkes Band vereint.
Diejenigen Kräfte „im Westen“, die für China die Option einer Demokratie
vertreten, sollten eine möglichst vielfältige, buntscheckige Reformbewegung
unterstützen, auch wenn es dort Gruppierungen gibt, die mit dem
Machtmonopol der Kommunistischen Partei (noch nicht) gebrochen haben.
Deshalb laufen rigorose Abgrenzungen zwischen wahren und
Pseudooppositionellen, wie sie Liao vornimmt, Gefahr, das oppositionelle
Lager weiter zu marginalisieren.
Ein zweites beherrschendes Thema in Liaos Frankfurter Rede sind die
„westlichen Konsortien“, die „unter dem Deckmantel des freien Handels mit
den Henkern gemeinsame Sache machen, Dreck anhäufen“. Und Liao
schlussfolgert: „Der Einfluss dieses Wertesystems des Drecks, das den
Profit über alles stellt, nimmt weltweit überhand.“
Liao weist die Behauptung vieler „westlicher“ Analytiker zurück, dass der
wirtschaftliche Aufschwung Chinas zwangsläufig zu demokratischen Reformen
führen werde, sodass den Wirtschaftsbeziehungen mit dem „Westen“ eine
demokratiefördernde Wirkung zukomme. Liaos Kritik besteht zu Recht, wie die
Erfahrung fortdauernder Unterdrückung bei gleichzeitig hohen Wachstumsraten
lehrt.
Liao prangert die heuchlerische Menschenrechtsphraseologie „westlicher“
Politiker an, ihre reale Funktion als Handelsvertreter, ihr Kuschen vor den
chinesischen Machthabern. Nicht Demokratie werde gefördert, sondern die
Eingliederung Chinas und seiner Ausbeuterelite ins globalisierte
Profitsystem.
## Rituelle Menschenrechts-Sprüchlein
Wäre es also konsequent, die ökonomischen Beziehungen als Druckmittel
gegenüber der chinesischen Machtelite einzusetzen? Und wenn ja, wie? Dies
zu untersuchen sieht Liao nicht als seine Aufgabe an. Seine Anklage hätte
aber dennoch ein wichtiges Teilziel erreicht, wenn an der Vergesslichkeit
der deutschen Politiker gekratzt, wenn Tiananmen ihnen häufiger ins
Gedächtnis gerufen würde.
Wenn sie es bei ihren Besuchen in China nicht bei dem rituellen
Menschenrechts-Sprüchlein beließen, sondern in dem Bewusstsein agieren
würden, dass beide Länder gleichermaßen vom Handel abhängig sind. Und
entgegen einer oft gehörten Meinung legt die chinesische Politik großen
Wert auf das internationale Image als zivilisierte Nation.
Liao sieht als Reaktion auf den Sieg des Profitprinzips in China nur die
Korrumpierung der verarmten Bevölkerung. „Die einfachen Leute, die zwischen
Blut und Grausamkeit ihr Leben fristen müssen, verlieren noch den letzten
Rest Anstand.“ Denn: „Elend und Schamlosigkeit bedingen einander.“
Gegen diesen pessimistischen Blick Liaos auf die Widerstandskraft des
chinesischen Volkes lässt sich empirisch eine ganze Menge einwenden – man
denke nur an die landesweit tausende Streiks und Demos gegen korrupte und
diebische Funktionäre und Unternehmer. Aber mit der Überzeugung, dass ein
tief greifender Mentalitätswandel in der Bevölkerung Voraussetzung für den
Sieg der Demokratie ist, liegt er richtig.
21 Oct 2012
## LINKS
[1] /Rede-des-Friedenspreistraegers-/!103555/
## AUTOREN
Christian Semler
## TAGS
China
Frankfurt
Menschenrechte
Frieden und Krieg
Schwerpunkt Christian Semler
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