# taz.de -- Ägypten nach der Wahl: Algerische Schatten über Kairo | |
> Je länger sich die Wahlergebnisse verzögern, desto mehr fürchten die | |
> Menschen in Ägypten, dass das Militär um jeden Preis die Macht behalten | |
> will. | |
Bild: Anhänger von Muhammad Mursi beim Freitagsgebet auf dem Tahrirplatz. | |
KAIRO taz | Eine rauchende Pyramide, die auszubrechen droht wie ein Vulkan: | |
Das aktuelle Cover des britischen Wochenmagazins The Economist hat bei den | |
Ägyptern offensichtlich einen Nerv getroffen. Die Titelseite machte schon | |
auf Facebook und Twitter die Runde, bevor das Magazin am Freitag eintraf. | |
Denn das Gefühl, auf einem brodelnden Vulkan zu sitzen, ist derzeit weit | |
verbreitet. Die Ergebnisse der Präsidentenstichwahl vom vergangenen | |
Wochenende sind immer noch nicht verkündet. In einer neuen | |
Übergangsverfassung hat der regierende Militärrat seine eigene | |
Unantastbarkeit festgeschrieben und die Macht des zukünftigen Präsidenten | |
ausgehöhlt. Mit der Auflösung des Parlaments fällt auch noch die | |
legislative Macht an die Militärs. | |
Den unterschriebenen Ergebnisprotokollen aller ägyptischen Wahllokale | |
zufolge, die die Tageszeitung al-Ahram vor ein paar Tagen veröffentlichte, | |
liegt zwar der Muslimbruder Muhammad Mursi mit 900.000 Stimmen vorne. Doch | |
die Wahlkommission schiebt die Verkündung der offiziellen Ergebnisse immer | |
wieder hinaus. Die Einwände der Kandidaten müssten geprüft, manche Bezirke | |
neu ausgezählt werden, argumentiert sie. Zuletzt kündigte sie das | |
Endergebnis für Sonntag an. | |
## Nicht noch mehr Instabilität | |
Mursis Rivale, Mubaraks letzter Regierungschef Ahmed Schafik, erklärte in | |
einer Pressekonferenz Donnerstagnacht, er sei sich sicher, die Wahlen | |
gewonnen zu haben. Aber sein Lager halte sich zurück, um im Land nicht noch | |
mehr Instabilität zu verursachen – ein Fingerzeig auf Mursi, der sich seit | |
Tagen auf dem Tahrirplatz in Kairo feiern lässt. | |
Am Freitag riefen die Muslimbrüder, die Salafisten, aber auch die „Bewegung | |
6. April“ und linke Gruppierungen zu einer erneuten Großdemonstration auf | |
dem Platz auf. Sie forderten den Militärrat auf, die Übergangsverfassung | |
zurückzunehmen, das Parlament wieder einzusetzen und ein Dekret aufzuheben, | |
das dem Militär wie früher das Recht gibt, Zivilisten zu verhaften. | |
„Wir leben jetzt wie unter einer Besetzung durch den Militärrat. Es ist | |
eine Vergewaltigung unserer Freiheiten. Es ist eine starke Konterrevolution | |
im Gang“, glaubt die Kinderärztin Salma Abdelaziz, die auf den Platz | |
gekommen ist. Für die Kinderärztin in modischer Kleidung mit rosa Kopftuch | |
geht es dem Militär vor allem darum, nicht für vergangene Verbrechen zur | |
Verantwortung gezogen zu werden. „Das garantiert sich der Militärrat, indem | |
er dem neuen Präsidenten keine Machtbefugnisse gibt und indem er sich eine | |
Verfassung maßschneidert.“ | |
Sie hat Angst, dass die Militärs als Nächstes den Muslimbrüdern den | |
Wahlsieg absprechen. „Es stimmt, die Muslimbrüder haben uns Revolutionäre | |
seit dem Sturz Mubaraks immer wieder im Stich gelassen haben. Trotzdem | |
dürfen wir sie heute nicht im Stich lassen“, sagt sie. „Denn wenn wir das | |
machen, dann geben wir unser Land auf.“ | |
## „Total verwirrende Diskussion“ | |
Auch Bassem Adel, Besitzer eines Handyshops, ist heute auf den Platz | |
gekommen, weil er fürchtet, dass die Revolution gestohlen wird. „Der | |
Militärrat ist mit aller Dummheit dazu entschlossen, und er verkauft uns | |
Ägypter für blöd. Jetzt hat er das Land in eine total verwirrende | |
Diskussion gestürzt: Wer hat die Wahl nun gewonnen: Schafik oder Mursi, | |
Mursi oder Schafik? In Wirklichkeit ist doch der Militärrat der Präsident“. | |
Mursi sucht derweil neue Verbündete. Nach einem Treffen versprach er, die | |
jungen Revolutionäre vom Tahrirplatz in seine Regierung einzubinden. An dem | |
Treffen nahm unter anderem der prominente Internetaktivist Wael Ghoneim | |
teil. | |
Der Militärrat hat indessen deutlich gemacht, dass er keinen Widerspruch | |
duldet. Zehntausende hatten sich trotz der glühenden Sommerhitze am Freitag | |
auf dem Tahrirplatz versammelt, da gaben die Generäle ihre neueste | |
Erklärung heraus. Diese verurteilt die Veröffentlichung der angeblichen | |
Wahlergebnisse durch die Muslimbruderschaft und verteidigt die | |
Übergangsverfassung und die Auflösung des Parlaments. Einher geht diese | |
Erklärung mit der Drohung, dass das Militär öffentliches Eigentum schützen | |
werde. | |
Das Militär gibt sich also kompromisslos. Die Muslimbruderschaft muss noch | |
entscheiden, ob sie sich auf Konfrontation einlassen soll. Tut sie es, | |
droht Ägypten ein algerisches Szenario. | |
22 Jun 2012 | |
## AUTOREN | |
Karim Gawhary | |
Karim El-Gawhary | |
## TAGS | |
Ägypten | |
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