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# taz.de -- Zu Gast im EM-Zirkus: „Shopping!“, sagt Mr. Lee
> Für viele Besucher der Europameisterschaft ist der Fußball mittlerweile
> Nebensache. Es geht vor allem um Sensationslust und hemmungslosen Konsum.
Bild: Diese erfolgsuchenden EM-Eventfans sind wirklich unsäglich.
In Polen nennen die echten Fans, die allzeit bereiten Kuttenträger und
Ultras auf den Stehplätzen, all jene, die das Spiel etwas gelassener von
den teureren Plätzen aus verfolgen, verächtlich Pikniki. Denn diesen Leuten
seien Kielbasa (polnische Bratwurst) und Bier in der Halbzeitpause
wichtiger als die leidenschaftliche Unterstützung ihrer Mannschaft.
Doch diese Vorwürfe an die Adresse des in der Regel ziemlich
sachverständigen polnischen Jerzy-Normalfußballguckers sind ungerecht. Die
wahren Pikniki nämlich treiben ihr Unwesen gerade bei der EM 2012.
Viertelfinalspiel Tschechien – Portugal im Nationalstadion zu Warschau,
Block G.
Zehn Minuten nach Spielbeginn mäandert eine etwa achtköpfige, vom Kleinkind
bis zum Onkel in Ronaldo-Trikots gewandete, palästinensische Familie in
extrovertierter Orientierungslosigkeit in jenen Zuschauerbereich, wo sie
ihre Sitzplätze ungefähr vermuten.
Nach weiteren zehn Minuten, in denen etwa 50 Leute aufstehen, diskutieren,
sich wieder setzen und wieder aufstehen mussten, sind alle einigermaßen
untergekommen. Kurze Zeit später ist die Sittsamkeit schon wieder dahin.
Der älteste Sohn wird zum Fastfoodholen geschickt, welches kurz vor Ende
von Halbzeit eins unter großem Bohei und lauten Streitigkeiten verteilt
wird.
## Eine völlig fußballunspezifische Attitüde
Die Atmosphäre in den Stadien bei großen Turnieren wird zunehmend geprägt
von Menschen, die weder eine besondere Affinität zu einer der gerade
spielenden Mannschaften haben noch zum Fußball überhaupt.
Mehr noch: Im Zuge globaler Vermarktungsstrategien und des Ticketverkaufs
via Internet finden in immer größerer Zahl Menschen von ganz weit her den
Weg in die europäischen Fußballtempel. Mit einer völlig
fußballunspezifischen Attitüde von Schau- und Sensationslust gehen sie ins
Stadion wie in den Zirkus oder in den Zoo. Hauptsache, der nächste
Imbissstand ist in Reichweite.
Da ist einem Jasun Lee aus der malaysischen Hauptstadt Kuala Lumpur allein
schon deswegen sympathisch, weil er als Produzent von Fußballvideospielen
immerhin mit dem Sujet vertraut ist. Außerdem hat er sogar einen
Lieblingsverein im Mutterland des Fußballs – den FC Chelsea – und freut
sich immer, wenn er einen Spieler dieses Teams in einem der Nationalteams
bei der Europameisterschaft findet.
Doch auch er und seine zehnköpfige Reisegruppe schwerreicher ostasiatischer
Jungunternehmer sind nicht in erster Linie wegen des Fußballs auf dem alten
Kontinent unterwegs, sondern um Geld auszugeben. „Shopping!“, sagt Mister
Lee mit naiv leuchtenden Augen auf die Frage nach dem Zweck der
Gruppenreise.
## Willkommenes Begleitprogramm
Aber nicht in Polen und schon gar nicht in der Ukraine wollen sie
zuschlagen, sondern nach Barcelona, Paris und vielleicht noch in die
Schweiz soll der Einkaufsbummel führen. Die EM ist ein willkommenes
Begleitprogramm, eine Art Karneval fern der Heimat, bei dem sich das Kind
im Manne mal richtig austoben darf.
Und schon hier nehmen sie jede Gelegenheit zum Konsum wahr: die teuersten
Tickets, neue Schals zu jedem Spiel, und mit bemalten Gesichtern einmal
durch die Cateringwelt der Uefa-VIP-Zone geschlemmt. Den Pikniki gehört
mittlerweile die globalisierte Fußballwelt.
So wie Europa im Weltmaßstab zur Nebensache wird, verlagert sich bei den
internationalen Fußballfesten der Schwerpunkt des Interesses weg vom grünen
Rasen hin auf das Drumherum. Fußball in der Abseitsfalle.
25 Jun 2012
## AUTOREN
Uli Räther
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