# taz.de -- Familienplanung in China: Viele Kaiser, wenige Frauen | |
> In China wird noch immer bestraft, wer mehr als ein Kind bekommt. Jedoch | |
> werden die strengen Regeln inzwischen des öfteren aufgeweicht. | |
Bild: Mit der Ein-Kind-Politik beschloss die Regierung ganz nebenbei auch das V… | |
Von meinem ersten Besuch bei meiner Verwandtschaft in China, das war in den | |
Achtzigern, ist mir vor allem eines in Erinnerung geblieben: wie | |
überfordert ich war. Ich hatte nicht nur einfach Tanten und Onkel, Cousinen | |
und Cousins. Sie waren auch durchnummeriert. | |
So hieß meine älteste Tante die „große Tante“, die zweitälteste nannte … | |
die „zweite Tante“, die drittälteste die „dritte Tante“. Die jüngste … | |
wiederum die „kleine Tante“. Und nicht nur das: Meine Großeltern, Tanten | |
und Onkel mütterlicherseits hatten eine völlig andere Bezeichnung als die | |
Verwandten meines Vaters. | |
Hinzu kamen die angeheirateten Tanten und Onkel, die väterlicherseits | |
anders hießen als mütterlicherseits. Ich musste tunlichst darauf achten, | |
dass ich sie auch ja korrekt ansprach. Bei sieben Tanten und angeheirateten | |
Onkeln, 21 Vettern und Basen – allein auf der Seite meines Vaters – war das | |
ein ganz schön schwieriges Unterfangen. | |
Die junge Generation der Volksrepublik hat dieses Problem nicht mehr. Eine | |
Ayi, so die Bezeichnung für eine Tante mütterlicherseits, kennen viele nur | |
noch als Reinigungskraft, die zweimal die Woche zum Putzen kommt. Brüder | |
und Schwestern gibt es fast gar nicht mehr, und auch Cousinen und Cousins | |
werden rar. | |
## Das Verschwinden der Großfamilie | |
Inzwischen wächst sogar eine Generation heran, die nicht einmal mehr Tanten | |
und Onkel hat. Denn vor 33 Jahren beschloss die Kommunistische Partei in | |
China, dass jedes Ehepaar nur noch ein Kind bekommen sollte. Sie beschloss | |
damit, ganz nebenbei, auch das Verschwinden der Großfamilie, wie ich sie | |
als kleiner Junge noch erlebt habe. | |
Aus Deutschland kenne ich die Debatten, mehr Kitaplätze zu schaffen, die | |
Elternzeit ist eingeführt, Betreuungsgeld soll folgen – alles Maßnahmen, um | |
junge Erwachsene dazu zu bringen, mehr Kinder in die Welt zu setzen. In | |
China hingegen hält die Regierung weiterhin an einer Politik fest, die | |
genau das Gegenteil zum Ziel hat: Die Bevölkerung soll schrumpfen. Auf den | |
ersten Blick ist diese Politik sinnvoll. Ich sehe das, wenn ich nun Peking | |
erlebe: Zu allen Tageszeiten sind die Straßen mit Menschen, vor allem aber | |
mit Autos verstopft. | |
Selbst per U-Bahn und Bus komme ich nur mit großer Mühe an mein Ziel. 1,3 | |
Milliarden Einwohner zählt die Volksrepublik derzeit. Hätte es die | |
Einkindpolitik nicht gegeben, wäre die Zahl der Bevölkerung heute | |
wahrscheinlich 400 Millionen höher. Fast 8.500 Millionen Tonnen CO2-Ausstoß | |
verursachen die Chinesen jährlich. Und mit steigendem Wohlstand steigt | |
dieser Wert immer schneller. Wer die nackten Zahlen betrachtet, der | |
versteht die Einkindpolitik. | |
Wären da nicht 300 Millionen Abtreibungen in den vergangenen 30 Jahren, | |
viele davon erzwungen. Auf dem Land gehen Beamte zuweilen besonders grausam | |
vor. Zuletzt bei einer 23-Jährigen. Sie war im siebten Monat schwanger. | |
Weil sie sich weigerte, für das zweite Kind die fällige Strafgebühr zu | |
zahlen, schleppten Polizisten sie auf Anweisung der Lokalregierung in ein | |
Krankenhaus und injizierten ihr eine Flüssigkeit, die eine Abtreibung | |
einleitete. Blogger hatten Fotos der entsetzten Frau – ihr toter Fötus lag | |
neben ihr – übers Internet verbreitet. Immerhin werden die Verantwortlichen | |
nun bestraft, der Chef der örtlichen Familienplanungskommission musste | |
gehen. | |
## Iss, iss, iss! | |
Je länger Chinas Führung diese Politik beibehält, desto deutlicher werden | |
die gesellschaftlichen Nachteile. Nicht nur dass im ganzen Land kleine | |
Kaiser herangezogen werden, gehätschelt von zwei Eltern- und vier | |
Großelternteilen. Ich sehe diese kleinen Kaiser in den Shoppingmalls der | |
Stadt. Ihre Eltern stopfen sie pausenlos mit Essen voll. „Chi, chi, chi!“, | |
rufen sie. Iss, iss, iss! | |
Ein anderes Problem: China wird alt. Bereits in 20 Jahren werden in der | |
Volksrepublik 300 Millionen Rentner leben. Das entspricht etwa der | |
Einwohnerzahl der USA. Anders als Deutschland droht China jedoch zu altern, | |
noch bevor es reich geworden ist. | |
China wird nicht nur älter – sondern auch männlicher. Wenn schon nur ein | |
Kind, so denken viele Eltern, dann ein Junge. Mädchen lassen sie oft | |
illegal abtreiben. Ein Institut in Peking hat errechnet, dass es 2020 einen | |
Überschuss von 40 Millionen jungen Männern im heiratsfähigen Alter geben | |
wird. | |
Es sei nachgewiesen, dass der Aggressionspegel in Gesellschaften mit hohem | |
Männerüberschuss massiv steigt, sagen die Forscher. Schon jetzt finden in | |
jeder großen Stadt wöchentliche Heiratsmärkte statt, auf denen vor allem | |
reiche Junggesellen ihr Herzblatt zu finden hoffen. Wer kein Geld und keine | |
eigene Wohnung hat, geht häufig leer aus. | |
## Aufgeweichte Regeln | |
Inzwischen hat die Führung diese Probleme nicht nur erkannt, sondern auch | |
zugegeben. Offiziell hält sie an der Einkindpolitik zwar noch fest, doch | |
die Regeln werden aufgeweicht. | |
In Städten wie Peking und Schanghai dürfen etwa Eltern, die selbst | |
Einzelkinder waren, auf Antrag inzwischen auch zwei Kinder bekommen. Und | |
die Strafgelder werden zumindest nicht mehr erhöht. Waren 20.000 Yuan – das | |
sind rund 2.500 Euro – für viele Chinesen vor einigen Jahren noch eine | |
gigantische Summe, können sich viele Familien diese Ausgabe dank des | |
gestiegenen Wohlstands inzwischen leisten. Die Familien werden wieder | |
größer. | |
Von meinen ersten Besuchen in China ist mir nicht nur meine Verwirrung | |
angesichts der vielen Onkel und Tanten in Erinnerung geblieben, sondern | |
auch, dass ich stolz war auf meine große Familie. Vielleicht ist das ein | |
Gefühl, das in Zukunft wieder mehr Kinder in China erleben werden. Das ist, | |
so könnte man sagen, die schöne Seite der Überbevölkerung. | |
6 Jul 2012 | |
## AUTOREN | |
Felix Lee | |
## TAGS | |
Geschwister | |
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