# taz.de -- Debatte Kinderbetreuung: Glucke oder Rabenmutter? | |
> In Belgien ist die Kinderversorgung bestens geregelt. Dafür gibt es keine | |
> Vätermonate und auch nicht mehr Chefinnen. Ein Blick über die Grenze. | |
Bild: Fortschrittlich und selten: In Schwerin gibt es eine 24-Stunden-Kita für… | |
Eine einzige Anfrage und mein Sohn hatte seinen Kita-Platz: in der gleichen | |
Straße wie unsere Wohnung, für rund 500 Euro im Monat. Die Betreuungszeit | |
lässt sich flexibel gestalten – je nach meinem Arbeitsrhythmus in der Zeit | |
zwischen halb acht am Morgen bis halb sieben am Abend. Die Erzieherin | |
kümmert sich in der Gruppe außer um meinen Sohn nur noch um zwei andere | |
Kinder. Das Betreuungskonzept, das wir auch in schriftlicher Form bekommen | |
haben, überzeugt. | |
Das sind paradiesische Zustände. Das ist belgische Normalität. Wenn ich | |
meinen Freundinnen in Deutschland davon erzähle, werden sie entweder wütend | |
oder depressiv. In München kostet die Betreuung fast 1.000 Euro im Monat, | |
und das Kind muss jeden Morgen durch die halbe Stadt gekarrt werden, weil | |
in der näheren Umgebung überhaupt kein Platz zu finden war. | |
Die meisten meiner Freundinnen, die in den vergangenen Monaten Mutter | |
geworden sind, haben schnell aufgegeben und bleiben nun mindestens ein Jahr | |
zu Hause und betreuen den Nachwuchs selbst. Einige haben es sich so | |
ausgesucht. Aber die meisten verzichten auf Job und Karriere, weil sie | |
keine (bezahlbare) Alternative zur Vollzeitmama gefunden haben. | |
Spätestens in einem Jahr soll in Deutschland ja bekanntlich alles besser | |
werden. Dann gibt es den Rechtsanspruch für einen Kitaplatz für die | |
Kleinen. Aber die Kommunen warnen immer lauter davor, dass das Angebot die | |
Nachfrage niemals abdecken wird. Und auch die deutsche Bundesregierung | |
räumt ein, dass mindestens noch 160.000 Kitaplätze fehlen, um zumindest das | |
gesteckte Ziel zu erreichen, für 35 Prozent der Kleinkinder Plätze | |
anzubieten. Nach den Schätzungen der Kommunen liegt der eigentliche Bedarf | |
bei über 60 Prozent. | |
In Belgien gibt es keine gesetzliche Garantie für die Betreuung von | |
Kleinkindern. Aber es funktioniert trotzdem besser als in Deutschland. Auch | |
kann es natürlich passieren, dass eine Familie auf einen Betreuungsplatz | |
warten muss. Daher sollte man sich spätestens im sechsten | |
Schwangerschaftsmonat vormerken lassen. | |
Zurzeit werden in Belgien fast die Hälfte der Kinder unter drei Jahren | |
außerhalb der Familie betreut – in staatlichen oder privaten | |
Kindertagesstätten. In einigen Regionen des Landes sind es sogar über 60 | |
Prozent. Und die Betreuung ist bezahlbar. In den staatlichen Kitas sind die | |
Beiträge nach dem Einkommen gestaffelt. Aber auch die privaten können sich | |
die meisten Doppelverdiener leisten – nicht zuletzt, weil der Staat die | |
Krippen, die bestimmte Auflagen erfüllen und staatliche akkreditiert sind, | |
anteilig subventioniert. Für die frankofonen Einrichtungen waren das 2010 | |
rund 100 Millionen Euro. | |
## Und was macht NRW? | |
Außerdem kann der gesamte Betrag für die Kinderbetreuung von der Steuer | |
abgesetzt werden. In Deutschland knacken die 50-Prozent-Marke bei der | |
Betreuung der Kleinsten gerade einmal drei Bundesländer: | |
Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Brandenburg. Das bevölkerungsreichste | |
Bundesland Nordrhein-Westfalen – direkter Nachbar von Belgien – erreicht | |
noch nicht einmal 20 Prozent Betreuungsanteil. | |
Während auf der einen – nämlich der deutschen – Grenzseite die Mütter no… | |
immer schief angeschaut werden, wenn sie schon bald nach der Geburt wieder | |
arbeiten wollen, gilt in Belgien die Tradition, Frauen so schnell wie | |
möglich wieder in die Arbeitswelt einzugliedern. Das hat ebenfalls extreme | |
Auswirkungen zur Folge – wenn auch in die völlig entgegengesetzte Richtung: | |
Spätestens vier Monate nach der Geburt geben die meisten Familien ihren | |
Nachwuchs in die Betreuung – in Kindertagesstätten oder zu Tagesmüttern. | |
Diese frühe Trennung ist für viele Mütter grausam und führt auch dazu, dass | |
nur die wenigsten darüber hinaus ihre Babys stillen. | |
Einige verlängern die Auszeit um drei weitere Monate. Allerdings müssen sie | |
in dieser Zeit auf ihren Lohn verzichten und bekommen vom Staat nur Almosen | |
von höchstens 300 Euro im Monat. Eine Regelung wie Elterngeld kennen die | |
Belgier nicht, auch keine Erziehungszeit für Väter. Wollen sie länger zu | |
Hause bleiben, müssen sie das selbst finanzieren. Das ist auch eine gewisse | |
Art der Gleichberechtigung. Allerdings wirkt sich das kaum auf die Karriere | |
aus – in Belgien schaffen es nicht mehr Frauen in Spitzenpositionen als in | |
Deutschland. | |
Und Müttern und Vätern, die sich länger um den Nachwuchs kümmern wollen, | |
wird keine Garantie gegeben, dass sie ihren Arbeitsplatz behalten werden. | |
Mit einem Paradies für Eltern hat das wenig zu tun. | |
## Immer diese Extreme | |
Ganz persönlich hatte ich Glück: Ich konnte mir aus beiden Ländern das | |
Beste zusammensuchen und so entscheiden, wie es mir für meinen Sohn und für | |
mich selbst am besten erschien: Acht Monate sind wir gemeinsam zu Hause | |
geblieben, und dann haben wir uns langsam umgewöhnt – zunächst mit Teilzeit | |
in der Kita und schließlich mit Ganztagsbetreuung. Aber das ist Luxus – in | |
Belgien und in Deutschland – nur eben aus ganz gegensätzlichen Gründen. | |
Im Zuge der Diskussion um die Kitaplätze in Deutschland streiten sich nun | |
auch wieder Verhaltensforscher, Psychologen und Soziologen darum, welche | |
Variante – mit Mama zu Hause oder mit Freunden in der Kita – wohl die | |
bessere ist für die Kinder. Zu einem einheitlichen Ergebnis kommen sie | |
dabei selten. | |
Ich frage mich, warum die Regierungen nicht dafür sorgen können, dass es | |
den Familien – und allen voran den Müttern – überlassen bleibt, ihr | |
Familien- und Arbeitsleben so zu gestalten, wie sie es für richtig halten. | |
Dabei würde ein etwas europäischerer Blick über die jeweilige Grenze gut | |
tun. Denn weder die Mutter, die mehrere Jahre zu Hause bleibt und sich rund | |
um die Uhr um ihre Kinder kümmert, noch die Mutter, die nach wenigen | |
Monaten wieder anfängt, Vollzeit zu arbeiten, ist von vornherein eine | |
Glucke oder eine Rabenmutter. | |
Inakzeptabel ist nur, wenn sie zum einen oder zum anderen Extrem gezwungen | |
wird, weil die Gesellschaft und die Strukturen ihr keine andere Wahl | |
lassen. Das zu ändern, ist die eigentliche Aufgabe von erfolgreicher | |
Familienpolitik. | |
10 Jul 2012 | |
## AUTOREN | |
Ruth Reichstein | |
## TAGS | |
Familienpolitik | |
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