| # taz.de -- Calais setzt auf die Olympischen Spiele: Nacht heißt Hoffnung | |
| > Die Stadt am Kanal umwirbt Olympiagäste, dass sie in der Region | |
| > absteigen. Nur die zahlreichen Papierlosen, die will man schnell wieder | |
| > loswerden. | |
| Bild: Für viele Flüchtlinge ist Calais das Eingangstor nach Großbritannien | |
| CALAIS taz | An den Tag, an dem Paris verlor, erinnert sich Dominique | |
| Dupilet gern. Es war der 6. Juli 2005, als das Internationale Olympische | |
| Komitee entschied, die Sommerspiele 2012 nicht in der französischen | |
| Hauptstadt, sondern in der britischen abzuhalten. „In drei Sekunden haben | |
| wir die britische Flagge gehisst“, lässt sich Dupilet, der dem nördlichsten | |
| französischen Departement Pas-de-Calais vorsteht, gern zitieren. | |
| Calais liegt nur eine Zugstunde von London entfernt und für Dupilet war | |
| klar: „Wir werden die Basis dieser Olympischen Spiele sein.“ Das | |
| Departement investierte 115 Millionen Euro in neue Sportanlagen und Dupilet | |
| sandte Botschafter in die ganze Welt. | |
| Bei 41 Olympiamannschaften verfing die Werbung. Sie nehmen derzeit in | |
| Nordfrankreich Quartier. Mit etlichen Tausend zusätzlichen Gästen rechnen | |
| die Hoteliers und plakatieren Tafeln mit dem Slogan „Wir grüßen die Welt“. | |
| Tarik hingegen ist nicht willkommen in Calais. Er sei „verpflichtet, ohne | |
| jede Verzögerung das französische Territorium freiwillig zu verlassen“ | |
| steht auf einem Blatt Papier, ausgestellt von Dupilets Verwaltung, | |
| ausgehändigt an Tarik nach einer Nacht im Gefängnis. | |
| Es ist das Einzige, was Tarik je vom französischen Staat bekommen hat. Und | |
| im Grunde steht auf dem Papier genau das, was Tarik will. | |
| Es ist der 20. Juni, der Internationale Tag des Flüchtlings, und Tarik, | |
| Anfang 30, gelernter Mechaniker und Kurde aus dem nordirakischen Erbil, | |
| hockt mit etwa dreißig weiteren Papierlosen an einem Unterstand auf einer | |
| betonierten Brache am Hafen von Calais. Sie alle wollen nach England, nur | |
| deshalb sind sie hier. | |
| ## Patrouillen und Schikanen | |
| Secours Catholique, eine der Caritas vergleichbare Hilfsorganisation, | |
| verteilt hier Essen an die Männer, denn der Staat tut es nicht. Und weil | |
| heute der Tag des Flüchtlings ist, soll es ein Fest geben. | |
| Die Helfer haben eine Musikanlage aufgebaut, einige der Männer werfen in | |
| der Mittagshitze einen Rugby-Ball hin und her. Es gibt wie fast jeden Tag | |
| Reis mit etwas Huhn, Baguette, in einem Karton liegen matschige Bananen. | |
| ## Sändige Kontrollen | |
| Hinter einem Zaun stehen zwei Polizeiautos. Calais ist die einzige Stadt in | |
| Frankreich, in der die Aufstandsbekämpfungs-Einheit CRS ständig | |
| patrouilliert. „Sie kommen manchmal fünf-, sechsmal am Tag und | |
| kontrollieren uns“, sagt Tarik. Abschieben kann Frankreich sie meist nicht, | |
| keine Papiere, unsichere Herkunftsländer, unklare Identität. „Also hoffen | |
| sie, dass wir von alleine gehen, wenn sie uns nur genug schikanieren.“ | |
| Auf der anderen Straßenseite beginnt der Hafen. 23-mal am Tag legen die | |
| Fähren der Reederei P & O hier ab. Neunzig Minuten dauert die Fahrt nach | |
| Dover, 35 Euro kostet ein Ticket. | |
| Passagiere laufen vorbei, andere steuern ihre Autos in Richtung Kai. Oder | |
| ihre Lkws. 120 passen auf jede Fähre. Und jeder Einzelne ist für Menschen | |
| wie Tarik eine Chance. | |
| Wie viele der Männer trägt er eine Rolle mit festem Isolierband um das | |
| Handgelenk – Werkzeug und Symbol zugleich: Sie benutzen es, um die | |
| aufgeschlitzten Lkw-Planen von innen wieder zu verschließen – und es soll | |
| sie gegenseitig bestärken, es immer wieder zu versuchen. | |
| Tarik hat schon einmal in England gelebt, habe dort gutes Geld verdient, | |
| sagt er. Die Sprache spricht er, im Gegensatz zu Französisch, einigermaßen. | |
| Kurz bevor er ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht bekommen hätte, schob die | |
| britische Polizei ihn in den Irak ab. | |
| ## Kein Weg zurück | |
| Er brach sofort wieder auf. „Im Irak kann ich nicht leben“, sagt er. Wenn | |
| die Gelegenheit günstig ist, wolle er es auch heute Nacht wieder wagen. „In | |
| England gibt es Jobs. Es ist gut dort“, sagt er. Alle reden hier so. | |
| Auf dem Weg zu den Fähren stehen sieben Hallen, gefüllt mit modernste | |
| Technik und bezahlt von der britischen Regierung: Kohlendioxidsonden, | |
| Herzschlagsensoren und Röntgenapparate. | |
| Es gibt nur drei vergleichsweise aussichtsreiche Möglichkeiten, im | |
| Lkw-Laderaum auf eine Fähre zu gelangen: Kühllaster, deren Isolierung die | |
| Röntgenstrahlen abschirmt, Tiertransporte, in denen Herzschlag und Atmung | |
| von Tier und Mensch nicht unterscheidbar sind – und die häufigen | |
| Stoßzeiten, in denen sich so viele Lkws einschiffen, dass die Grenzer nur | |
| Stichproben machen können. | |
| ## Sprachunterricht für Papierlose | |
| „Manche versuchen es wochenlang, aber am Ende kommen sie fast alle durch“, | |
| sagt Philippe Wannesson, ein Aktivist mittleren Alters, der den Papierlosen | |
| an der Essensausgabe Französischunterricht gibt. | |
| Es ist der einzige Ort in der Stadt, an dem das möglich ist. Das war nicht | |
| immer so. Bis 2002 betrieb das Rote Kreuz im Vorort Sangatte eine | |
| Unterkunft für die Papierlosen. Es war die Halle, in der die | |
| Eurotunnel-Gesellschaft zuvor ihre riesigen Bohrmaschinen gelagert hatte. | |
| „Aber die Briten haben das als Beihilfe zur illegalen Einreise betrachtet“, | |
| sagt Wannesson. „Und als Sarkozy Innenminister wurde, hat er sich nicht | |
| lange bitten lassen und das Lager geschlossen.“ | |
| ## „Die Solidarität ist kaputt“ | |
| Seither leben die Papierlosen, zeitweise zu Hunderten, auf der Straße. „Am | |
| Anfang gab es viel Solidarität, Demos. Manche haben Papierlose bei sich | |
| aufgenommen“, sagt Wannesson. Doch das sei unter Strafe gestellt worden. | |
| Jede Unterstützung kann heute als Beihilfe zum illegalen Aufenthalt | |
| geahndet werden. | |
| „Einige haben Haftstrafen bekommen, zwar nur zu Bewährung, aber die | |
| Solidarität ist kaputt gegangen.“ Dem Tourismus nutzen werde das alles | |
| nichts, glaubt er. | |
| ## Hoffen auf die Sommerspiele | |
| „Schau dich um: Die Stadt wurde im Krieg völlig zerbombt, es gibt so viele | |
| schönere Städte in Frankreich.“ Ganz Unrecht hat er nicht. „Außer | |
| Sauftouristen aus England will hier doch keiner Urlaub machen.“ | |
| Umso größere Hoffnungen setzen Lokalpolitik und Hotellerie der | |
| strukturschwachen Region in die Sommerspiele. „In den letzten Wochen hat | |
| die Polizei die leer stehenden Häuser geräumt und abgerissen, in denen sich | |
| die Eritreer und Sudanesen einquartiert haben“, sagt er. In vielen Straßen | |
| sind leer stehende Häuser mit Stahlplatten verrammelt. | |
| Vor den Spielen sei der Druck, den die CRS macht, „definitiv gewachsen“, | |
| sagt Wannesson. Die Polizei nehme den Papierlosen die gespendeten Zelte, | |
| Schlafsäcke und Isomatten weg, stecke sie immer wieder ins Gefängnis. Die | |
| Papierlosen klagen über Misshandlungen. | |
| ## Die Stadt schweigt | |
| Die Stadt äußert sich zum Thema nicht. Rechtzeitig zu den Spielen hat sie | |
| ein Touristenbüro am Bahnhof eröffnet. Darin sitzt Jean, ein freundlicher | |
| Mann, er trägt ein schwarzes Polo-Shirt, seine Brille sitzt eine Spur zu | |
| weit vorne auf der Nase. | |
| „Wir haben hier nichts gegen Migranten“, sagt er. „Ein Problem für den | |
| Tourismus sind nur die, die auf der Durchreise sind. Das muss man | |
| neutralisieren.“ Neutralisieren? „Aufhalten. Aber die Polizei hat das gut | |
| im Griff.“ | |
| Wer die Gefahr aufgehalten zu werden verringern will, kann die Dienste | |
| eines Mannes, der sich Wayne nennt, in Anspruch nehmen. Bevor man ihn | |
| besuchen darf, versprüht er Deo in dem Mittelklassewagen, in dem er die | |
| meiste Zeit wohnt. | |
| ## Das Geschäft geht gut | |
| Er schiebt eine Packung mit Feuchttüchern vom Beifahrersitz, nimmt ein | |
| Päckchen Gras aus dem Fach und baut einen Joint. „Es ist nicht unfair, was | |
| ich mache“, sagt er ungefragt, während er den Tabak platt drückt. „Wenn s… | |
| es schaffen, kriegen sie in England sofort Sozialhilfe. Ich muss darauf | |
| sechs Monate warten.“ | |
| Waynes Geschäfte laufen gut, sagt er, fast jede Nacht sei er unterwegs. „In | |
| Calais nähere ich mich keinem Lkw“, sagt er. Viel zu gefährlich. | |
| Stattdessen fährt er die Papierlosen zu den Autobahnraststätten. | |
| Albaner und Kurden seien es heute Nacht gewesen. Für sie sucht er einen | |
| Lkw, der auf dem Weg nach England sein dürfte. So genau weiß man das aber | |
| nie. Sie warten an der Straße, bis der Fahrer schläft. Dann ist Waynes | |
| Dienstleistung erbracht. | |
| Wenn es gut läuft für seine Kunden, sind sie schon am Vormittag irgendwo in | |
| Großbritannien. Wenn der Lkw woanders hinfährt oder die Polizei sie | |
| entdeckt, ist es ihr Pech. | |
| ## Schmuggeln und kassieren | |
| Dreistellige Beträge kassiert Wayne dafür. Wie viel genau, will er nicht | |
| sagen. Wie können das die Papierlosen bezahlen, die hier auf der Straße | |
| hausen? Er kramt nach einem Werbeblatt von Moneygram und hält es hoch. | |
| „So“, sagt er. „Die Familien schicken ihnen das Geld.“ | |
| Lange will er den Job nicht mehr machen. Nur noch ein wenig zusammensparen. | |
| Nach England will er danach nicht mehr. Zu viele Kameras, überall. „Und zu | |
| viele Ausländer.“ | |
| In der Nacht hat es geregnet. Am Morgen kauern Männer unter eine | |
| Plastikplane, die sie auf einem Grünstreifen zwischen zwei Büschen | |
| aufgespannt haben. Die Essensausgabe hat noch nicht geöffnet. Ihre Taschen | |
| sind nass, sie selbst auch. | |
| Auch Tarik ist dabei. Es gab keine Gelegenheit. Viel Polizei, wenige Lkws. | |
| Er hat niemanden, der ihm Geld für die Dienste von Wayne schicken könnte. | |
| „Aber heute ist wieder eine Nacht.“ | |
| 10 Jul 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Christian Jakob | |
| Christian Jakob | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Olympische Spiele 2024 | |
| Calais | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| Schwerpunkt Olympische Spiele 2024 | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Flüchtlingsroute Calais-Dover: Geld für die Abwehr von Flüchtlingen | |
| Großbritannien und Frankreich erhalten von der EU 266 Millionen Euro bis | |
| zum Jahr 2020, um die Lage am Ärmelkanal unter Kontrolle zu bringen. | |
| Flüchtlinge am Ärmelkanal: Der Tod am Tunnel | |
| Der Ansturm auf den Eurotunnel von Calais nach Dover fordert immer wieder | |
| Todesopfer. Zumeist bleiben sie namenlos. Kein Ende des Elends in Sicht. | |
| Vorbereitung Olympia: Hochsicherheitszone London | |
| Die Olympischen Sommerspiele werden die größte britische Militäroperation | |
| seit dem Koreakrieg. Bis zu 17.000 Soldaten sind im Einsatz, Raketen stehen | |
| auf Hausdächern. | |
| Transitmigranten in Belgien: Kameras, Natodraht und Elektrotaser | |
| Seit es über das französische Calais nicht mehr geht, versuchen | |
| Transitmigranten über Ostende nach Großbritannien zu kommen. Die belgische | |
| Hafenstadt rüstet auf. | |
| Kommentar Asylrecht: Etappensieg für Flüchtlinge | |
| Für die Menschenrechtsverletzung der kurdischen Flüchtlinge kassiert | |
| Frankreichs Immigrationsminister Besson nun dankenswerterweise eine | |
| gehörige (politische) Ohrfeige. | |
| Flüchtlinge in Calais: Hoffen auf den Mythos England | |
| Nach der Räumung des größten Flüchtlingscamps "Jungle" hält in Calais der | |
| Zustrom von Migranten an - wie auch die Repression der Behörden. | |
| Zugausfälle unter dem Ärmelkanal: Chaos im Tunnel | |
| Das Wunderwerk des Schienenverkehrs ist nicht ganz schneetauglich: Die | |
| Eurostar-Züge zwischen Paris und London blieben liegen. Reisende mussten 15 | |
| Stunden in den Wagen ausharren. |