# taz.de -- Flüchtlinge in Calais: Hoffen auf den Mythos England | |
> Nach der Räumung des größten Flüchtlingscamps "Jungle" hält in Calais der | |
> Zustrom von Migranten an - wie auch die Repression der Behörden. | |
Bild: Vor der Räumung: Migrant im "Jungle" von Calais. | |
Zurückgeblieben ist ein Standbild. Eine bizarre Brache von der Ausdehnung | |
mehrerer Fußballfelder. Was nach dem Fällen der Bäume noch übrig war, wurde | |
planiert. Die Spuren der Bulldozer haben sich tief in den Boden gegraben, | |
über Schlafsäcke und Decken, die im feuchten Sand vor sich hin schimmeln. | |
Zerknüllte Hosen, Pullover und einzelne Schuhe liegen auf dem matschigen | |
Grund. Auch Matratzenspiralen finden sich zwischen Brettern und | |
Plastikplanen, und jede Menge Abfall. Ein Busdepot, ein Elektrizitätswerk | |
und ein paar Lagerhallen säumen das Gelände in der Zone Industrielle des | |
Dunes unweit des Hafens. Seit Monaten bewegt sich hier nichts mehr. | |
Auf einmal kommt Leben in die eingefrorene Szene. Unvermittelt taucht eine | |
Gestalt aus dem Gebüschstreifen am Rand auf. Sie trägt Jogginghose, einen | |
Parka und eine dunkelblaue Mütze. Der Afghane wohnte früher hier, im | |
Jungle, dem größten der elenden Flüchtlingscamps unter freiem Himmel, für | |
die Calais berühmt wurde. Sein Gesicht ist zerfurcht, über 40 Jahre ist er | |
alt, doppelt so alt wie die meisten hier, und anders als sie spricht er nur | |
brüchiges Englisch. "Finished", sagt er, und weist auf die Ödnis um sich. | |
Mit einer scharfen Handbewegung deutet er den Bulldozereinsatz an und zuckt | |
die Schultern. Dann schlurft er weiter, überquert die Straße und | |
verschwindet dahinter in einem Waldstück. Dort wohnt er jetzt. | |
Es ist eine Szene mit Symbolkraft. Die groß angelegte Räumungsaktion des | |
Jungle, in dem im Sommer noch um die tausend meist afghanische Migranten | |
unter erbärmlichen Bedingungen lebten, holte im September die Weltpresse in | |
die Hafenstadt am Ärmelkanal. Sie wurde Zeuge einer öffentlichen | |
Inszenierung: Die französische Regierung wollte klarstellen, dass es ihr | |
von nun an ernst sei mit der Bekämpfung der Transitmigration nach | |
Großbritannien. Knapp 300 Menschen wurden nach offiziellen Angaben | |
festgenommen, Einwanderungsminister Éric Besson klopfte sich für den | |
erfolgreichen Schlag gegen Schlepperbanden vor laufenden Kameras selber auf | |
die Schulter und kündigte an, Calais werde bis zum Jahresende "wasserdicht | |
gegen illegale Einwanderung". | |
Die Wirklichkeit sieht anders aus. Zwar sind mehrere hundert | |
Transitmigranten in Paris untergetaucht, andere haben sich über die Küste | |
verteilt, nach Dunkerque, Boulogne und bis herunter nach Cherbourg, um von | |
dort versteckt auf einem Lkw mit der Fähre oder dem Eurostarzug die andere | |
Seite des Kanals zu erreichen. Doch bereits am Abend nach der Zerstörung | |
des Jungle trafen neue Flüchtlinge in Calais ein. Zu Beginn des Winters | |
sind es rund 300. Ihre Hoffnung auf Asyl oder wenigstens Schwarzarbeit und | |
wenig Ausweiskontrollen mag der dortigen Realität immer weniger | |
entsprechen. Doch der Mythos England überdauert Planierraupen und | |
Kettensägen, so wie er seit Jahren immun ist gegen die Aufrüstung der | |
Straße von Dover zu einer der am schwersten zu überwindenden Grenzen der | |
Welt. Nach der Räumung ist vor der Räumung, das ist das Gesetz von Calais, | |
und so geht der Afghane mit dem faltigen Gesicht einfach hinüber, in den | |
neuen Jungle. | |
Es ist nicht die einzige provisorische Siedlung. Auch hinter dem | |
verlassenen Hovercraft- Terminal bieten die Dünen weiterhin Unterschlupf | |
für Gestrandete. Hazara-Jungle heißt der Streifen im lokalen Idiom, | |
begrenzt von einem seltsam idyllischen Strand und der Straße, die den von | |
grellweißen Zäunen umgebenen Hafen mit der Stadt verbindet. Sechs junge | |
Hasaren, Angehörige einer farsisprechenden Minderheit in | |
Zentralafghanistan, haben sich seit zwei Wochen dort niedergelassen. | |
Seither findet in den Dünen ein makabres Katz- und Mausspiel statt: Beinahe | |
jede Nacht, sagt der 28-jährige Ahmadi, bekommen sie Besuch von fünf oder | |
sechs Polizeiwagen. Die Beamten decken das Areal in den Dünen mit Tränengas | |
ein, zerstören die Zelte, nehmen die Schlafsäcke mit und stecken die | |
unsanft Geweckten für den Rest der Nacht in eine Zelle. Am nächsten Tag | |
werden sie freigelassen, kehren zurück in ihren Jungle und beginnen erneut, | |
aus Planen, Paletten und Absperrgittern einen Unterschlupf zu zimmern. Nur | |
hundert Meter vom neu errichteten Lager entfernt finden sich die | |
Überbleibsel des vorigen. Reste eines Stuhls, verkohltes Holz, zertretenes | |
Plastik. Seit Jahren können die Migranten von Calais davon ein Lied singen. | |
Die, die erst im Herbst gekommen sind, kennen kein anderes. Die Frequenz | |
der Einsätze hat massiv zugenommen. | |
Der Ort, an dem all diese Geschichten erzählt werden, liegt im | |
heruntergekommenen Hafenviertel in Sichtweite der Fährterminals. Auf einem | |
geräumigen Hof, den die Stadt ihnen zur Verfügung stellt, verteilen | |
Hilfsorganisationen dreimal am Tag Mahlzeiten. Wie überall in Calais | |
kreuzen Polizeistreifen hinter dem Zaun. Während der Essensausgabe belassen | |
sie es bei Blicken, so ist es mit der Bürgermeisterin abgesprochen. | |
Zeit zum Durchatmen für Hamid und Ajmal. Die beiden 16-Jährigen wohnten im | |
zerstörten Jungle. Seither schlafen sie unter Brücken, wenn sie nicht, wie | |
gestern, von der Polizei mit Tritten geweckt und ihre Decken mit Wasser | |
begossen werden. An eine Nacht auf der Wache eine Stunde von Calais | |
entfernt haben sie sich inzwischen gewöhnt. Brauchen sie für den Rückweg zu | |
lange, verpassen sie eine Mahlzeit. Kein Wunder, dass sie auf kältere | |
Temperaturen warten: Ab zwei Grad unter null nämlich stellt eine städtische | |
Schule ihre Turnhalle zur Verfügung. | |
Viele Minderjährige | |
Es sind unter anderem die vielen Minderjährigen, die Maureen McBrien nach | |
Calais brachte. Bereits seit dem Sommer unterhält das UNHCR, das | |
Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen, eine Niederlassung in der | |
Stadt. Seit dem Herbst wird sie von der Amerikanerin geleitet. 14 Jahre | |
lang zog McBrien durch Flüchtlingscamps in Kriegsgebieten wie Kongo, Ruanda | |
und Kosovo. Die Zustände in Calais hält sie für "schlimmer, als ich sie | |
irgendwo anders gesehen habe". | |
Weil die Transitmigranten nach England wollen, stellt niemand in Frankreich | |
einen Antrag auf Asyl. "Daher haben sie kein Recht auf staatliche Hilfe. | |
Die einzige Unterstützung kommt hier aus der Zivilgesellschaft." Maureen Mc | |
Brien und ihr Assistent besuchen daher die Camps der Umgebung, um | |
Informationen zum Asylverfahren in Frankreich zu geben. Trotzdem geht ein | |
Lachen über ihr Gesicht, als sie bei der Mittagsausgabe die Nachricht der | |
letzten Nacht vernimmt: Drei Jugendliche haben es hinüber nach England | |
geschafft. Der älteste ist 14, der jüngste 11. | |
Denen, die in dieser Nacht in einer verlassenen Schreinereihalle am Rand | |
des Zentrums um das Feuer sitzen, steht dieser Schritt noch bevor. African | |
Squat wird das riesige Gebäude genannt, denn die rund 30 Bewohner kommen | |
aus dem Sudan, Eritrea und Somalia. Das Tor lässt sich nicht mehr | |
schließen, es gibt keine Elektrizität, und brauchbares Feuerholz wird ein | |
knappes Gut im feuchten Ärmelkanal-Winter. Zwei Tage zuvor saß Steven noch | |
hier, ein eloquenter 23-Jähriger, der wie die meisten Sudanesen aus Darfur | |
kommt. In knapp drei Wochen hatte er eine Handvoll Versuche unternommen, | |
auf eine Fähre zu gelangen. Vergeblich. Während er seine Socken am Feuer | |
trocknete, erzählte er von den Fluchtplänen, die jeder für sich alleine | |
schmiede. "Jederzeit kann jemand einfach verschwinden. Vielleicht wollte er | |
nur kurz raus in die Stadt, und wir sehen ihn nie wieder." Kurz darauf | |
wurde Steven selbst zum letzten Mal gesehen. | |
5 Jan 2010 | |
## AUTOREN | |
Tobias Müller | |
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