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# taz.de -- Transitmigranten in Belgien: Kameras, Natodraht und Elektrotaser
> Seit es über das französische Calais nicht mehr geht, versuchen
> Transitmigranten über Ostende nach Großbritannien zu kommen. Die
> belgische Hafenstadt rüstet auf.
Bild: Brach sich auf der Flucht den Arm: Transitmigrant Yacine in Ostende.
OSTENDE taz | Elektrozäune lügen nicht. Nicht an einem Ort wie diesem, und
schon gar nicht, wenn sie in sieben engen Reihen gespannt sind, die sich
über dreihundert Meter Länge die Böschung der Brücke hinunterziehen. Unten
fahren die Lkws vorbei auf die Fähre. Manche halten hier, wenn sie früh
dran sind, noch einmal an. Die Fahrer dösen dann ein wenig, früher
kontrollierten sie, ob sich nicht jemand von der Brücke heruntergelassen
und zwischen Kabine und Ladefläche versteckt hatte.
Heute ist das nicht mehr nötig. Wer sollte das schaffen, mit siebenfachem
Elektrozaun? Vor wenigen Monaten erst wurde er angebracht. Ein deutliches
Zeichen. Ostende steht auf der Karte der klandestinen Migration.
Dreimal täglich schieben sich die Fähren vorbei an dem alten weißen Pier
Richtung England in die Nordsee. Heimlich auf, in oder unter einen Lkw und
auf diese Weise an Bord gelangen: darin liegt der Reiz, den das alte Seebad
an der vollbetonierten belgischen Küste auf junge Transitmigranten ausübt.
Der Sommer ist vorbei, schon lassen die ersten Cafés ihre Läden dicht, und
so manche Bar gleicht abends einem Seniorenausflug.
Die Transitmigranten aber haben immer Saison. Oder mehr denn je. Nach
Jahren, in denen sich das Geschehen vor allem in französischen Häfen
abspielte, ist Ostende, eine Stadt der Rentner, Surfer und britischer
Sauftouristen, zum Absprungort für blinde Passagiere geworden. Gründe dafür
gibt es mehrere.
Zum Beispiel dieses Stück Papier, das Ahmed in der Hand hält. Der Ägypter,
klein gewachsen und jünger aussehend als Ende 20, bekam es am Vortag von
einem der Polizisten, die in seinem Versteck im Hafen eine Razzia
durchführten. "Aufenthalt ohne gültige Papiere" steht darauf, und die
Konsequenz lautet: "Befehl, das Grundgebiet zu verlassen". Dann folgt eine
Auflistung aller EU-Staaten, denn auch hier ist Ahmed nicht mehr
willkommen. Offiziell, denn eigentlich wären die belgischen Behörden schon
zufrieden, wenn er sich ungesehen davonmachte.
## Überfüllte Gefängnisse
Eine Nacht in Gewahrsam, ein Ausweisungsbescheid. Danach ziehen Ahmed und
die anderen ihrer Wege. Die Gefängnisse in Belgien sind überfüllt, die
geschlossenen Abschiebezentren ebenso. Die angrenzenden Niederlande würden
ihn ein paar Monate einsperren, der Abschreckung wegen. In Frankreich hätte
er es mit Behörden zu tun, die alles daran setzen, die Kanalüberquerungen
von Calais und Dunkerque zu beenden, systematisch noch die notdürftigsten
Behausungen zerstören, Schlafsäcke konfiszieren und gewohnheitsmäßig
Tränengas versprühen. Vor einem Jahr gingen in den Straßen von Calais
Geschichten um. In Belgien, hieß es, gebe es einen Hafen, von dem aus es
leichter sei, nach England zu kommen. Manche wussten den Namen. Ostende.
Auch hier hat Ahmed in den letzten fünf Monaten so einiges erlebt. Essen
und Medikamente nahmen die Polizisten seinen Freunden ab, sie zertraten
ihre Handys oder warfen sie ins Wasser. Manchmal, wenn die Medien über die
Diebstähle der "Illegalen" schrieben und man um den Strandtourismus
fürchtete, saß der Schlagstock recht locker. Und nicht nur der. Ahmed ist
nicht der Einzige hier, der schon Bekanntschaft mit den Elektroschocks aus
einem Beamtentaser machte. Dazu kommt, dass es vor der Fähre nur zwei
Kontrollen gibt, statt wie in Calais drei. Die Route über Ostende wurde
populär. Und die Stadt voller.
Man merkte das schon zu der Zeit, als Ahmed, dem die Revolution in Ägypten
seinen Wunsch nach "ein bisschen mehr Geld" nicht erfüllen konnte,
Alexandria den Rücken kehrte. "Illegale auf den Gleisen", hieß es im Winter
mehrmals in belgischen Zeitungen. Nur mit erheblicher Verspätung konnten
die Züge in den Bahnhof von Ostende einfahren, weil Transitmigranten sich
über das halbherzig gesicherte Eisenbahngelände Zugang zum Hafen
verschafften.
Im Frühjahr kam Ahmed an, nach einem Flug nach Istanbul und einer Odyssee
durch die Türkei, Griechenland, Italien und Frankreich. Zu dieser Zeit
wurde die Zaunfront des Bahngeländes mit Natodraht überzogen. Doch was
blieb, war die besondere Geografie Ostendes. Nah beieinander liegen die
Stadt, der Hafen und der Kopfbahnhof, dessen verlassene Schuppen im Winter
Unterschlupf bieten, und den nur eine Straße vom "Wäldchen" trennt. Dieser
Park, weitläufig und jenseits gepflegter Seeanlagen mit reichlich Unterholz
ausgestattet, ist seit jeher der Rückzugsraum der Transitmigranten. Meist
spielte sich das Treiben versteckt vor den Augen der Spaziergänger ab.
Im Frühjahr wurde die Szene nicht nur öffentlicher, sondern auch größer und
vielfältiger. Ahmed gehörte zu den ersten Ägyptern. Inzwischen können sie
und die Tunesier zahlenmäßig mit den Algeriern mithalten, die seit Jahren
von Ostende aus die Kanalpassage probieren. Im Gegensatz zu Frankreich hat
Belgien kein Rücknahmeabkommen mit Algier und kann somit nicht einfach
dorthin abschieben. Doch nun führen auch von außerhalb des Maghreb die
Routen immer häufiger in die "Königin der Seebäder", aus Sudan und Nigeria,
Somalia und Irak, ab und an sogar aus Afghanistan. Wer von dort in den
letzten Jahren nach England aufbrach, versuchte sein Glück meist über
Calais.
## Härtere Gangart
Doch der Wind am Kanal scheint sich zu drehen, wieder einmal. Im Spätsommer
kündete der Bürgermeister von Ostende eine härtere Gangart an. Um die 1.500
Transitmigranten trafen seine Beamten dieses Jahr bislang an, und darum
sollen die örtliche-, die Eisenbahn- und Schifffahrtspolizei mit
zusätzlichen Patrouillen pro Tag 20 Personen festnehmen. Neue Zellen müssen
gebaut werden, wer verhaftet wird, soll ausnahmslos 12 oder gar 24 Stunden
einsitzen. Mitte September begannen die Kontrollrunden. Die Medien
berichten, dass die Quote eingehalten werde.
Johan Vande Lanotte, ehemaliger Minister und Chef des Hafens von Ostende,
regte weitere Maßnahmen an. Zwei Jahre Haft für das unbefugte Betreten des
Geländes, Extrakameras, Extrazäune, und auch die Immigrationsbehörde solle
Beamten an den Kanal abstellen. Ostende, forderte er vor TV-Kameras, müsse
der schlechteste Platz für die Überfahrt nach England werden. Auch die
britische Regierung, deren Grenzpolizisten seit Jahren in Ostende die
Lkw-Kontrollen verstärken, stockte vor einiger Zeit ihr Personal auf.
Im Wäldchen verlagert sich das Geschehen seither zurück ins Unterholz. Die
Rückzugsräume werden knapp, abgesehen von einem Wohlfahrtszentrum, wo
Transitmigranten morgens duschen können und umsonst Essen bekommen. Dazu
gibt es einmal in der Woche medizinische Versorgung und Rechtsberatung.
Zugang zu anderer Hilfe haben sie nicht, denn niemand käme auf die Idee, in
Belgien um Asyl zu fragen.
Immerhin betritt die Polizei das Haus nicht, versichert Tine Wyns, die
Direktorin. Dennoch geht die Angst um, seit die Stadt ihre neue Strategie
verkündete. Die so neu nicht ist, merkt sie an, denn wer erwischt wird,
bleibt auch heute schon eine Nacht in Gewahrsam. Und auch in Zukunft wird
man die Transitmigranten danach wohl laufen lassen. Eine Lösung sieht
anders aus, findet Tine Wyns, die in den Maßnahmen eher Muskelspiele im
Rahmen der Kommunalwahlen sieht, die nächstes Jahr stattfinden.
Derweil fordert die Situation ihre Opfer. So wie Yacine, ein junger
Algerier mit hagerem Gesicht, schütterem Haar und doppelt gebrochenem Arm.
Neulich kam die Polizei um Mitternacht in die verfallene Bootsfabrik im
Hafen, wo er schläft. Yacine wollte fliehen, stürzte in der Dunkelheit und
fiel drei Meter die Treppe hinunter. An Zäune, Lkws oder Fähren braucht er
vorerst nicht zu denken.
Mit einigen Bekannten steht Yacine im Hof des Wohlfahrtszentrums und
diskutiert mit Ibrahim, der gestern abgeschoben wurde aus dem gelobten
Land. Nach Belgien, wo er vor Jahren seine Fingerabdrücke ließ, und das
nach dem Dublin-Abkommen für ihn zuständig ist. Auf der
Einwanderungsbehörde sagte man ihm, er solle sich verpissen. Weil er dort
Frau und Kinder hat, will er zurück nach Birmingham. Ansonsten ist er
fertig mit dem Traum von England. "U.K. is rubbish" - das ist seine Bilanz.
"Und das sage ich den anderen die ganze Zeit. Aber sie wollen das nicht
hören."
30 Sep 2011
## AUTOREN
Tobias Müller
## TAGS
Schwerpunkt Flucht
Schwerpunkt Olympische Spiele 2024
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