# taz.de -- taz-Serie (Über)Leben in Berlin (Teil 2): "Wir arbeiten wie in der… | |
> Ali M. ist Dönerschneider. Der Job wird mies bezahlt, Fehler kann er sich | |
> nicht erlauben. Doch der 27-Jährige braucht die Arbeit für seine | |
> Aufenthaltserlaubnis. | |
Bild: Mit Döner-Schneiden ist nicht viel zu verdienen. | |
taz: Wie heißen Sie? | |
Das will ich lieber nicht sagen. Nennen Sie mich Ali M. | |
Wie alt sind Sie? | |
27. | |
Seit wann leben Sie in Berlin? | |
Ich bin 2005 aus der Türkei hierhergekommen. | |
Würden Sie lieber an einem anderen Ort leben? | |
Nein. Ich lebe gerne hier. | |
Wo arbeiten Sie? | |
In einem türkischen Imbissrestaurant als Dönerschneider hinter der Theke. | |
Wie viele Stunden arbeiten Sie täglich? | |
40 Stunden in der Woche, jeweils zehn Stunden am Tag. | |
Wie viele Stunden davon sind bezahlt? | |
Alle. Ich bekomme dafür 600 Euro im Monat. | |
Wie viel verdienen Sie pro Stunde? | |
3,75 Euro. | |
Wie viele Menschen müssen Sie davon ernähren? | |
Nur mich. | |
Haben Sie einen Arbeitsvertrag? | |
Ja. | |
Wie haben Sie Ihren Arbeitsplatz gefunden? | |
Ich habe selber gesucht. Weil ich wenig Deutsch kann, brauchte ich einen | |
Arbeitsplatz, wo Türkisch gesprochen wird. Ich habe mich beworben. | |
Haben Sie den Beruf gelernt? | |
Nein. Ich habe in der Türkei an der Universität studiert. Ich wollte das | |
Studium eigentlich hier fortsetzen. Das Dönerschneiden habe ich am | |
Arbeitsplatz gelernt. Das hatte ich vorher noch nie gemacht. | |
Mögen Sie Ihre Arbeit oder würden Sie lieber eine andere machen? | |
Ich mache die Arbeit nur, um Geld zu verdienen. Ich bin auf der Suche nach | |
etwas anderem, seit ich jetzt eine Aufenthaltserlaubnis habe. Ich muss ja | |
irgendwie meinen Magen füllen. | |
Welche Arbeit würden Sie sich aussuchen, wenn Sie frei wählen könnten? | |
Mein Traum war immer, Nachrichtensprecher beim Fernsehen zu sein. | |
Anchorman. | |
Wie sieht Ihr jetziger Arbeitsplatz aus? | |
Von außen betrachtet: schön. Ich arbeite in einem schönen Restaurant. | |
Wie sieht er für Sie aus? | |
Nicht sehr komfortabel: Man ist immer auf den Beinen, kann sich nie setzen. | |
Im Sommer ist es sehr heiß am Grill. Im Winter ist man ständig erkältet, | |
weil es drinnen so heiß ist, durch das stets offene Fenster aber der Döner | |
auf die Straße verkauft wird. | |
Sind Sie nach der Arbeit müde? | |
Ja, sehr. Tot. | |
Fühlen Sie Sich überfordert mit der Arbeit? | |
Ich habe eine Zeit lang 60 Stunden wöchentlich in dem Restaurant | |
gearbeitet. Das war sehr hart, man konnte nichts anderes mehr tun. Deshalb | |
habe ich die Zahl meiner Arbeitstage reduziert. Dann kann ich nebenbei | |
versuchen, etwas anderes zu finden. Eine Arbeit, die mir besser gefällt. | |
Ist Ihre Arbeit gefährlich? | |
Kaum. Manchmal, wenn man nachts arbeitet, kommen betrunkene Gäste, die | |
Ärger machen, einen beschimpfen. Da muss man geduldig sein. Man weiß nie, | |
wer einem gegenübersteht. | |
Haben Sie deshalb manchmal Angst? | |
Manchmal stresst mich das. | |
Was bei Ihrer Arbeit macht Ihnen Spaß, was nicht? | |
Im Restaurant zu arbeiten macht mir überhaupt keinen Spaß. Ich mache das | |
nur für das Geld. | |
Wo würden Sie Sich in der Hierarchie an Ihrem derzeitigen Arbeitsplatz | |
verorten? | |
Ganz unten. Im Restaurant gibt es keine ausgeprägte Hierarchie. Es gibt den | |
Chef, der bestimmt das System. Alle anderen stehen auf der gleichen Stufe | |
unter ihm. Du darfst keinen Fehler machen und nicht aufmucken. Aus Angst | |
macht das auch keiner. Das ist in anderen Läden nicht anders, wie ich von | |
Kollegen höre. Es ist in Berlin ziemlich hart, in der Gastronomie zu | |
arbeiten. Die Konkurrenz ist groß, die Chefs machen Druck. Das lastet auf | |
denen, die da die Arbeit machen. Vielen geht es wie mir: Ich hatte keine | |
andere Wahl, ich musste die Arbeit machen, um eine Aufenthaltsgenehmigung | |
zu bekommen. Dafür musst du eine Arbeit haben. Deshalb sind alle vom | |
Arbeitgeber abhängig. Und der kann sie ausbeuten. Das ist das deutsche | |
Rechtssystem. Es ermöglicht diese Situation. | |
Kontrolliert jemand Ihre Arbeit? | |
Ja, der Patron, der Chef. | |
Was passiert, wenn Sie einen Fehler machen? | |
Wenn du einen Teller zerbrichst, nichts. Aber wenn du zum Beispiel einfach | |
nicht kommst, wirst du eben gefeuert. | |
Sie haben doch einen Vertrag. Da können Sie doch nicht einfach so gefeuert | |
werden! | |
Wir haben keine sozialen Rechte, auch keine Bezahlung, wenn wir krank sind. | |
Meistens können wir nicht einmal Pausen machen. Ich war nicht einmal krank, | |
seitdem ich den Job mache. Ich habe auch weitergearbeitet, als ich mich mal | |
ziemlich schlimm geschnitten hatte. Für uns gilt das deutsche Sozialsystem | |
nicht. Wir arbeiten wie in der Dritten Welt. Wenn die Leute hier darüber | |
Bescheid wüssten, würde keiner mehr Döner essen. | |
Haben Sie das Gefühl, dass Ihre Arbeit geschätzt wird? | |
Mein Chef bedankt sich dafür nicht. Mit den Kunden spreche ich wenig, weil | |
ich auch wenig Deutsch kann. Da ist etwas wie eine Wand zwischen ihnen und | |
mir. Man bekommt eher das Schlechte von den Menschen mit als das Gute. Ich | |
bin noch nie von Deutschen gefragt worden, wie es mir geht. Oder gar zu | |
ihnen nach Hause eingeladen worden. Dabei hätte ich gern deutsche Freunde. | |
Aber die Deutschen und die Türken leben hier in sehr verschiedenen Welten. | |
Finden Sie, dass Ihre Bezahlung gut ist? | |
Natürlich nicht. Ich verdiene viel zu wenig. In deutschen Restaurants | |
bekommt man 7, 8 Euro in der Stunde. Mein Verdienst ist außerdem eigentlich | |
immer zu niedrig, um eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen. Wir bezahlen | |
den Chef dafür, dass er uns Bescheinigungen über höhere Einkommen zur | |
Vorlage bei den Behörden ausstellt. | |
Gehören Sie einer Gewerkschaft an? | |
Nein. | |
Haben Sie schon einmal gestreikt? | |
Nein, noch nie. | |
Wie viele bezahlte Urlaubstage haben Sie? | |
Keinen. Aber wir dürfen pro Jahr einen Monat unbezahlten Urlaub machen. | |
Gibt es bei Ihnen eine Trennung zwischen Arbeits- und Privatleben? | |
Bei mir schon, weil ich meine Arbeitszeit reduziert habe und versuche, mir | |
noch ein anderes Leben aufzubauen. Meine Kollegen arbeiten alle mehr, sie | |
arbeiten eigentlich immer und haben kein Privatleben. | |
Wenn Sie weniger arbeiten müssten: Was würden Sie mit der freien Zeit tun? | |
Ich würde anfangen, an einer deutschen Uni zu studieren. | |
Wie viel Geld bräuchten Sie, um anständig leben zu können? | |
2.000 Euro. | |
Haben Sie Geld gespart? | |
Ich hatte. Aber das habe ich für einen Deutschkurs ausgegeben. | |
Sparen Sie jetzt wieder? | |
Nein, jetzt verdiene ich zu wenig. | |
Sprechen Sie mit Freunden über Geld? | |
Ja, klar! Ständig! | |
Wissen Ihre Freunde, wie viel Sie verdienen? | |
Ja. | |
Können Sie sich Geld von ihnen leihen, falls Sie keins haben? | |
Ja. | |
Was würden Sie tun, wenn Sie genug Geld hätten? | |
Wie viel denn? | |
Was Sie für genug halten! | |
Wenn ich genug Geld hätte, um mir ein Auto und eine Wohnung zu kaufen, | |
würde ich in die Türkei zurückkehren und dort arbeiten. | |
Wohnen Sie alleine oder mit anderen? | |
Allein. | |
Wer macht die Hausarbeit? | |
Ich. | |
Wie viele Quadratmeter hat die Wohnung? | |
45. | |
Sie Sie zufrieden mit Ihrer Wohnung? | |
Sie ist sehr laut. Und ich hätte gerne mehr als einen Raum, einen zum | |
Wohnen und einen zum Schlafen. | |
Haben Sie Kinder? | |
Nein. | |
Hätten Sie gerne welche? | |
Klar! | |
Wann? | |
Morgen! | |
Warum haben Sie dann keine Kinder? | |
Weil meine derzeitige Lebenssituation das nicht ermöglicht. Ich habe keine | |
passende Arbeit, und verheiratet bin ich auch nicht. Mein Einkommen reicht | |
gerade für eine Person. | |
Wie viele Stunden schlafen Sie pro Nacht? | |
Acht. | |
Schlafen Sie gut? | |
Ja. | |
Wann sind Sie zuletzt krank gewesen? | |
Kann mich nicht dran erinnern. Es gab ein paar Kleinigkeiten wie | |
Erkältungen oder so. | |
Haben Sie eine Krankenversicherung? | |
Ja. | |
Gehen Sie auch zur Arbeit, wenn Sie krank sind? | |
Ja. | |
Wer kümmert sich um Sie, wenn Sie krank sind? | |
Meine Freundin. | |
Fühlen Sie Sich in Ihrer Lebens- und Arbeitssituation unter Druck? | |
Ja, ja. | |
Und woher kommt dieser Druck? | |
Ich habe hier keine Familie. Ich habe keine Sicherheit. Ich bin von einer | |
Person – meinem Chef – völlig abhängig. Wenn der mich feuern sollte und i… | |
keine andere Arbeit finde, wird meine Aufenthaltserlaubnis nicht | |
verlängert. | |
Haben Sie Zukunftsangst? | |
Ich habe Angst vor jedem kommenden Monat. Sogar, wenn ich Sport mache, wenn | |
ich laufe, habe ich Angst, mich dabei zu verletzen. Wenn ich mir einen Arm | |
breche, kann ich nicht mehr arbeiten. Ich muss immer aufpassen. | |
Waren Sie schon mal arbeitslos? | |
Nicht einen einzigen Tag, seit sieben Jahren. | |
Haben Sie Angst vor Arbeitslosigkeit? | |
Ja, sehr! | |
Haben Sie Angst vor dem Alter? | |
Sehr. Ich kann ja nicht vorsorgen, nichts sparen oder so. Ich habe einen | |
Brief von der Rentenversicherung bekommen, da steht drin, wenn ich | |
weiterhin so arbeite, werde ich 300 Euro Rente bekommen. Wie soll ich davon | |
leben? | |
Haben Sie Verständnis für Leute, die nicht arbeiten wollen? | |
Nein. | |
Können Sie Sich vorstellen, nicht zu arbeiten? | |
Nein. | |
Was halten Sie von der Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens? | |
Sehr schön! | |
Wie hoch sollte das sein? | |
1.000 Euro. Das ist Kommunismus, oder? | |
Aus welcher Gesellschaftsschicht stammen Sie? | |
Ich stamme aus der Mittelschicht. Aber jetzt bin ich ganz unten. Ich | |
arbeite im Service-Sektor, habe kein Geld mehr für Urlaub, kein Auto, nicht | |
mal ein Fahrrad konnte ich mir bislang leisten. Ich habe nix, nur meinen | |
Magen kann ich füllen. | |
Haben Sie Kontakt zu Leuten aus anderen Schichten hier? | |
Ja, zu Türken. Zu Deutschen gar nicht. | |
Zu welcher Schicht würden Sie gern gehören? | |
Zur Mittelschicht: eine Wohnung mit drei, vier Zimmern, dazu ein kleines | |
Auto. Das Wochenende frei. Und einmal im Jahr drei oder vier Wochen Urlaub. | |
Ist das Mittelschicht? Das reicht mir. | |
Hatten Sie andere Vorstellungen von Deutschland gehabt, bevor Sie | |
hierhergekommen sind? | |
Ganz andere. In der Türkei glaubten wir: Was die Almancis, die | |
Deutschtürken, die hier reich geworden sind, können, können wir schon | |
lange. Die sind dumm, dachten wir. Dabei sind wir die Dummen, weiß ich | |
jetzt. Ich hatte keine Ahnung, was mich erwartet, als ich herkam. Ich hatte | |
bis dahin noch keinen Tag gearbeitet. Meine Mutter hat alles für uns getan, | |
sie hat uns verwöhnt. Wir wussten nicht einmal, wie man eine Glühbirne | |
wechselt. Nur für die Schule oder die Uni haben wir gelernt. | |
Haben Sie schon mal Diskriminierungen erlebt? | |
Das erlebe ich oft. Wenn ich in der U-Bahn neben einem Deutschen sitze, | |
habe ich das Gefühl, dass ihm das unangenehm ist. Ich habe ständig das | |
Gefühl, hier unerwünscht zu sein. Ich darf mir nichts zuschulden kommen | |
lassen. Das ist Stress. Ich bin dessen müde. | |
Wenn Sie zehn Jahre in Ihre Zukunft vorausschauen: Was sehen Sie? | |
Etwas Schönes! Denn ich glaube, das, was ich im Moment tue, wird sich | |
irgendwann bezahlt machen. Ich werde dafür belohnt werden. Deswegen schaue | |
ich hoffnungsvoll in die Zukunft. Ich hasse Deutschland dafür, was es mir | |
abverlangt. Aber genauso stark liebe ich es dafür, denn Deutschland hat aus | |
dem verwöhnten Bengel, der ich war, einen Mann gemacht. | |
11 Jul 2012 | |
## AUTOREN | |
Alke Wierth | |
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