# taz.de -- Jobben und leben: Berlin macht Arbeit | |
> Das Erwerbsleben verändert sich radikal - nur wenige BerlinerInnen haben | |
> noch feste Verträge. Damit gilt die Stadt als Vorreiter für weltweite | |
> Entwicklungen. | |
Bild: Arbeit hat viele Facetten. | |
„An meinem Nachbartisch wird ein Restaurant gegründet, gegenüber schreibt | |
jemand an seinem neuen Drehbuch. Meine Kollegen Tonia und Christoph planen | |
ein Festival, gerade bringt mir unser Barkeeper Josh einen Cappuccino an | |
den Schreibtisch. Die Zukunft der Arbeit macht schon jetzt Spaß!“ So | |
schreibt eine junge Gründerin im Rahmen der Kampagne „be Berlin“ über den | |
Kreuzberger Co-Working-Space Betahaus und die Zukunft der Arbeit. Zum Teil | |
ist diese in Berlin schon Realität. | |
Dabei galt die Stadt in dieser Hinsicht lange als Sorgenkind. Nach dem | |
Mauerbau wanderte viel Industrie in den Süden ab, nach der | |
Wiedervereinigung sah es nicht besser aus. Berlin war lange ein skurriler | |
Sonderfall, eine Ausnahme: Eine Stadt ohne Wirtschaftskraft, eine Metropole | |
der Brachen, bedroht von Abwanderung und Schrumpfung. | |
## Lücken und Leerstände | |
Das hat sich geändert: In den Lücken und Leerständen ist Neues gewachsen. | |
Die kreative Szene, die einzigartige Geschichte von permanentem Wandel – | |
zunächst vielleicht noch belächelt, passte dies doch genau in den Trend des | |
Neoliberalismus. Die „kreative Klasse“ galt auf einmal weltweit als Motor | |
und Garant für wirtschaftliche Entwicklung. Heute gilt die Stadt als eine | |
der spannendsten der Welt, sie wird in einem Atemzug genannt mit Barcelona, | |
New York oder Buenos Aires. | |
Es ist nicht so, dass Berlin nachholt, was andere Metropolen ihr voraus | |
haben. Die Stadt ist auf einmal nicht mehr Schlusslicht, sondern Modell für | |
Entwicklungen, die sich weltweit abzeichnen. Die Europäische Kommission, | |
die Vereinten Nationen, Stadt- und Wirtschaftsforscher sind sich einig: Im | |
Bereich Wirtschaft und Arbeit ist ein radikaler Wandel im Gange. Die Zeit | |
der Industrie-Gesellschaft ist vorbei, es folgt die Zeit der | |
Dienstleistungen, des Wissens, der Kommunikation und „kreativen Ökonomie“. | |
Damit verbunden ist das Ende des Normarbeitsverhältnisses – eines Modells | |
von Arbeit und sozialer Absicherung, das in den westlichen Staaten mehrere | |
Jahrzehnte das war, woran sich die Gesellschaft ausrichtete. | |
Atypische Arbeitsverhältnisse nehmen zu: Teilzeit, Leih- und Projektarbeit, | |
wechselnde oder mehrfache Jobs statt nur einem Beruf. Geringe Absicherung, | |
keine klare Trennung zwischen Beruf und Freizeit – was weltweit für einen | |
Großteil der Menschen gilt und bis zur Herausbildung der | |
bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft ab dem 18. Jahrhundert auch in | |
Europa normal war, das wird auch in Zukunft wieder „normal“ sein. Nicht nur | |
für jene, die sich wegen mangelnder Ausbildung mit wechselnden Jobs über | |
Wasser halten müssen, sondern – und das ist das, was Prekarität in den | |
letzten Jahren zu einem solch großen Thema gemacht hat – auch für die | |
gebildete Mittelschicht. | |
So ist Berlin auch ein Modell für die Zukunft der Arbeit: 80 Prozent des | |
Brutto-Inlandsprodukts in der Stadt werden mit Dienstleistungen generiert, | |
weniger als 15 Prozent im produzierenden Gewerbe. Nur wenige Menschen haben | |
hier das, was lange Zeit als Norm galt: Einen festen, unbefristeten Job, | |
ausreichend bezahlt, um überleben zu können. Rund zwanzig Prozent der | |
Berliner leben von Sozialleistungen, weitere zwanzig werden von | |
Familienangehörigen finanziert, die Selbständigen-Quote ist die höchste in | |
Deutschland. In einem "klassischen" Angestellten-Vollzeit-Job arbeiteten | |
laut Mikrozensus in Berlin im Jahr 2010 nur etwa 30 Prozent der Berliner | |
zwischen 35 und 40. In allen anderen Altersgruppen lagen die Werte teils | |
weit darunter. | |
„Prekäre“ Arbeit ist in Berlin mehr Norm als Ausnahme: Viele arbeiten | |
Teilzeit oder in Mini-Jobs. Das ist in gewissem Sinne fortschrittlich – | |
nicht jeder möchte einem 40-Stunden-Job nachgehen. Problematisch ist dabei | |
jedoch, dass die soziale Absicherung und die Teilhabe an der Gesellschaft | |
in Deutschland wie in kaum einem anderen Land an das | |
Beschäftigungsverhältnis gekoppelt sind. | |
Der Boom von Berlin kommt einem großen Teil der Bevölkerung keineswegs | |
zugute. Für die einen hip und cool, ist die Stadt für die anderen ein immer | |
schwierigeres Umfeld zum Überleben. Die Politik hat keine Antworten darauf | |
– sie predigt wahlweise das Zurück zu einer Vollarbeitsgesellschaft, die | |
immer nur eine vorübergehende Ausnahme war. Oder sie lobt die Freiheiten | |
der neuen, „freien“ Arbeit. | |
Gerade Berlin jedoch, das sich auf einmal als Vorreiter für die kreative | |
Stadt der Zukunft präsentiert, sollte auch Vorreiter sein, um die Frage | |
nach dem Überleben auf neue Wege zu beantworten. Wie kann soziale | |
Absicherung jenseits der traditionallen Arbeitsgesellschaft aussehen? Was | |
ist eine Definition von Arbeit, die den heutigen Lebensbedingungen | |
angemessen ist? Und wie kann das soziale Auseinanderbrechen der Stadt | |
verhindert werden? Darauf müssen Antworten gefunden werden. | |
4 Jul 2012 | |
## AUTOREN | |
Juliane Schumacher | |
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