# taz.de -- (ÜBER)LEBEN IN BERLIN (TEIL 6): „Ich werde zerrieben“ | |
> Lukas R. entwickelt Computerspiele für soziale Netzwerke. Er arbeitet | |
> gern und verdient gut. Zufrieden ist er trotzdem nicht immer. | |
Bild: "Ich bin selbst dafür verantwortlich, wie es mir geht, zu hundert Prozen… | |
taz: Seit wann sind Sie in Berlin? | |
Lukas R.: Seit August 2005. Da bin ich aus Österreich hergezogen. | |
Wo arbeiten Sie? | |
Seit März bei einer Firma in der Spielebranche. Die entwickelt Social | |
Games, Spiele, die man in sozialen Netzwerken wie Facebook spielt. Davor | |
hatte ich ein eigenes Unternehmen, PaperC, das habe ich mit zwei anderen | |
gegründet. | |
Wie sind Sie zu dem Job gekommen? | |
Zu PaperC? Das ist eine lustige Geschichte: Als ich nach Berlin kam, hatte | |
ich kaum Geld. Ich habe Webseiten programmiert und nebenbei gekellnert. Da | |
saßen zwei Typen im Café, die haben sich beschwert, dass bei mir immer | |
alles so lange dauert. Ich meinte: Ich programmiere nebenher Webseiten. Und | |
daraufhin sagten sie: Super, genau so jemanden suchen wir. So bin ich in | |
die Start-up-Szene gekommen. | |
Und zu Ihrem jetzigen Job? | |
Nach drei Jahren haben wir uns nicht mehr so gut verstanden. Da bin ich | |
ausgestiegen. Für 2012 hatte ich mir vorgenommen: Ich will meine Arbeit mit | |
meiner Leidenschaft verbinden: Computerspielen. Ich habe eine Bewerbung | |
geschickt und hatte den Job. | |
Wie haben Sie die Qualifikationen dafür erworben? | |
Ich bin Autodidakt. Mit 12 habe ich angefangen, mich für Computer zu | |
interessieren. In der Schule war ich nie besonders gut. Und nie besonders | |
aktiv. Ich habe immer viel Computer gespielt. Dieses Sicheinfühlen in | |
virtuelle Welten, das liegt mir. Aus dem Informatikstudium bin ich nach | |
zwei Semestern ausgestiegen. Dann habe ich angefangen zu programmieren, | |
aber kaum Geld verdient – vielleicht 150 Euro in zwei Wochen. Die Zeit bei | |
PaperC war ein gigantischer Schub. Wir haben mit Firmen und Programmierern | |
zusammengearbeitet, von denen habe ich unglaublich viel gelernt. | |
Würden Sie gern einen anderen Job machen? | |
Nein. Das Team, die Arbeitsweise – das entspricht alles genau meiner | |
Philosophie. | |
Haben Sie einen Arbeitsvertrag? | |
Nein. Ich bin Freiberufler, ich arbeite auf Basis eines Projektvertrags. Er | |
läuft 60 Tage, dann kann ich ihn verlängern. | |
Würden Sie gern angestellt arbeiten? | |
Die Firma möchte mich gern anstellen. Aber ich bin vorsichtig, was | |
Arbeitsverträge angeht. Wenn man angestellt ist, muss man Projekte machen, | |
hinter denen man nicht steht, Entscheidungen ausführen, die andere | |
getroffen haben. Ich kann nur arbeiten, wenn ich von dem überzeugt bin, was | |
ich tue. Aber jetzt, in dem Unternehmen, sind die Bedingungen wirklich | |
optimal. Ich kann mir vorstellen, da fest einzusteigen. | |
Wie sieht Ihr Arbeitsalltag aus? | |
Ich gehe morgens ins Büro, klappe meinen Laptop auf und fange an. In | |
unserem Büro arbeiten 200 Leute, das ist wunderschön gestaltet, alles ganz | |
offen. Mein Team hat etwa 20 Leute, wir haben einen eigenen Bereich, der | |
etwas abgetrennt ist. | |
Welche Arbeiten verrichten Sie? | |
Ich plane mit dem Projektleiter die nächsten Tätigkeiten und entwickle | |
Software. Außerdem warte ich Server, kümmere mich um die technische | |
Infrastruktur. | |
Ist die Arbeit körperlich oder geistig anstrengend? | |
Körperlich ist nur anstrengend, dass ich den ganzen Tag sitze. Mehr als | |
Rückenschmerzen oder eine Sehnenscheidenentzündung kann man kaum bekommen. | |
Programmierer haben bei den Krankenkassen immer die günstigsten Tarife. | |
Dass die Arbeit geistig anstrengend ist, merke ich nicht. Dazu macht sie | |
mir zu viel Spaß. | |
Was mögen Sie an Ihrer Arbeit? | |
Ich liebe es, mich in hochkomplexe, abstrakte Welten einzudenken – und dann | |
einfache technische Lösungen zu finden. | |
Was mögen Sie nicht? | |
Meetings. | |
Wo in der Hierarchie im Unternehmen stehen Sie? | |
Neben dem Geschäftsführer. Nein, ich bin ja nicht angestellt, habe also | |
auch keinen Vorgesetzten. Bei uns sind die Hierarchien extrem flach. Jeder | |
hat Zugriff auf alle Informationen, es wird erwartet, dass jeder seine | |
Aufgaben selbstständig löst. | |
Wer kontrolliert Sie? | |
Ich bin für meine Arbeit selbst verantwortlich. Wir haben viel Freiheit: | |
Ich kann auch mal was Neues ausprobieren, und das darf auch mal | |
schiefgehen. Wenn ich etwas total verbocken würde und das wirft das Team | |
zwei Wochen zurück, wäre das natürlich unschön. Wir stehen ja im Wettbewerb | |
mit anderen Unternehmen, der Markt ist hart umkämpft. | |
Wird Ihre Arbeit ausreichend wertgeschätzt? | |
Ja. | |
Wie viele Stunden am Tag arbeiten Sie? | |
Ich bekomme einen Tagessatz, wie viele Stunden ich arbeite, ist mir | |
überlassen. Ich habe mir feste Arbeitszeiten gesetzt: Ich komme um zehn Uhr | |
morgens und gehe gegen sechs. Oft würde ich gern länger bleiben, aber mit | |
Familie ist man da nicht mehr so flexibel. | |
Wie viel bekommen Sie pro Stunde oder Monat bezahlt? | |
450 Euro am Tag. | |
Fühlen Sie sich angemessen bezahlt? | |
Ja. 65 Euro sind mein Mindeststundensatz. Das ist üblich: Der Index für | |
unsere Branche gibt 70 Euro die Stunde an. Ich könnte auch noch ein | |
bisschen hochgehen, mit jedem Projekt steigt die Qualifikation. Die | |
Unternehmen machen mit unserer Arbeit unglaublich viel Geld. Für jede | |
Stunde, die wir arbeiten, bekommen die das Zehnfache raus. Verglichen mit | |
anderen ist mein Lohn natürlich hoch. Es gibt Freunde, denen ich lieber | |
nicht sage, wie viel ich verdiene. | |
Mit wem konkurrieren Sie? | |
Im Unternehmen: mit niemandem. Als Freiberufler ist man natürlich immer in | |
Konkurrenz. Mit anderen Freiberuflern, aber auch mit Festangestellten. | |
Mit wem kooperieren Sie? | |
Mit den Leuten aus der Community. Informatiker, gerade hier in Berlin, sind | |
in Gruppen organisiert, lose Netzwerke, die aber eine sehr wichtige Rolle | |
spielen. Man hilft sich weiter, vermittelt Jobs, organisiert Konferenzen. | |
Die Zeit bei PaperC war mein Einstieg. Damals habe ich viel von anderen | |
gelernt, inzwischen gebe ich selbst mein Wissen weiter. | |
Wie viele Pausen haben Sie? | |
Das ist ganz unterschiedlich. Ich nehme sie mir, wenn ich sie brauche. | |
Machen Sie Überstunden? | |
Gerade nicht. In der Zeit bei PaperC war das anders, da habe ich auch oft | |
abends oder am Wochenende gearbeitet. Jetzt, wo ich Kinder habe, ist das | |
weniger geworden. | |
Wie viel Urlaub haben Sie? | |
Soviel ich möchte. Wenn ich freihaben will, nehme ich mir frei, für die | |
Tage bekomme ich dann kein Geld. Letztes Jahr waren das etwa sechs Wochen. | |
Tendenziell eher etwas mehr. | |
Sind Arbeit und Freizeit klar getrennt? | |
Jetzt würde ich sagen: ja. Das war ein Lernprozess. Früher ist es mir sehr | |
schwergefallen abzuschalten, zu Hause den Laptop wegzulegen. Da haben | |
andere drunter gelitten, ich auch. | |
Welche anderen Aufgaben haben Sie außer der Arbeit? | |
Ich habe zwei Kinder. Eines ist drei Jahre, eines acht Monate alt. Und ich | |
habe manchmal kleine Projekte, verrückte Ideen. Gerade habe ich ein | |
Daumenkino programmiert. Das mache ich nicht für Geld. Aber ich brauche das | |
trotzdem. | |
Wie viele Stunden am Tag haben Sie frei? | |
Das hängt davon ab, wann die Kinder im Bett sind. Vielleicht vier Stunden, | |
bevor ich schlafen gehe. | |
Was würden Sie gern machen, wozu Sie aber keine Zeit haben? | |
Ich würde mich gern mehr in der Community engagieren. Ich würde auch gern | |
in der Open-Source-Gemeinde mitarbeiten, nichtkommerzielle Software | |
entwickeln. Und gleichzeitig auch mehr Zeit mit den Kindern verbringen. | |
Wie viel Geld haben Sie im Monat zur Verfügung? | |
Ich verdiene etwa 9.000 bis 10.000 Euro. Ein Drittel davon geht weg für die | |
Steuern, 1.000 für die Miete, noch mal 500 bis 1.000 für Versicherungen und | |
andere Fixkosten. | |
Wer lebt von diesem Geld? | |
Meine Frau, meine zwei Kinder und ich. Meine Frau ist | |
Rehabilitationspädagogin, sie arbeitet selbstständig, aber derzeit kümmert | |
sie sich hauptsächlich um die Kinder. Wenn der Kleine im Sommer in die Kita | |
kommt, will sie wieder mehr arbeiten. | |
Wofür geben Sie das Geld normalerweise aus? | |
Das kann ich nicht so genau sagen. Für Essen geht viel weg. Und für die | |
Kinder. Ich kaufe hochwertige Arbeitsgeräte, Laptop, Spiele. Urlaube sind | |
natürlich auch ein Batzen. Vor Kurzem waren wir mit den Kindern drei Wochen | |
in den USA. | |
Wie viel Geld brauchen Sie, um gut über die Runden zu kommen? | |
2.000 Euro im Monat, nach Steuern. Damit, denke ich, kann ich sorgenfrei | |
leben. | |
Haben Sie Rücklagen? | |
Momentan nicht. Die habe ich zwischen dem letztem Job und diesem | |
aufgebraucht. So ist das als Freiberufler: Einen Monat ist ganz viel da, | |
dann muss man wieder ein oder zwei Monate ohne Einkommen überbrücken. | |
Sparen Sie Geld? | |
Noch nicht. Ich bin sehr spendabel, wenn ich Geld habe, gebe ich es auch | |
aus. Ich habe das immer genossen, es gibt mir ein Gefühl von Freiheit. Aber | |
jetzt, wo ich Familie habe, fühle ich mich unwohl damit. Ich will einen | |
Plan machen und etwas zurücklegen, fürs Alter, für größere Anschaffungen. | |
Aber es fällt mir schwer, ich bin unsicher. | |
Wer würde Ihnen Geld leihen, wenn Sie welches bräuchten? | |
Meine Frau. Und ihre Familie. Ich bin zum Glück noch nie in eine solche | |
Situation gekommen. Lieber würde ich alles einschränken, als mir Geld zu | |
leihen. Mir ist schon unangenehm, dass die Eltern meiner Frau uns immer | |
wieder teure Sachen schenken. | |
Was hätten Sie gern, was Sie sich aus finanziellen Gründen nicht leisten | |
können? | |
Ich träume von einer wunderschönen Eigentumswohnung mit Dachterrasse. Aber | |
es gibt auch anderes: Orte, an die ich möchte. Produkte, die ich gern | |
entwickeln würde. Geld ist die Voraussetzung, wirklich frei entscheiden zu | |
können. Um ein eigenes Projekt zu starten zum Beispiel, dafür habe ich | |
nicht genug. | |
Wo wohnen Sie? | |
Mit meiner Familie in Friedrichshain, zur Miete. | |
Würden Sie gern woanders oder anders wohnen? | |
Ich möchte gern in der Stadt bleiben. Aber mit der Wohnung bin ich nicht | |
glücklich. Ich hätte gern mehr Platz, jedes Kind soll sein eigenes Zimmer | |
haben. Die Wohnung hat 85 Quadratmeter, dafür ist sie mit rund 1.000 Euro | |
zu teuer. Berlin ist keine Stadt mehr, wo man gut mieten kann. Ich ärgere | |
mich jeden Monat, so viel Geld zu zahlen, das dann einfach weg ist. Vor ein | |
paar Jahren wäre ein guter Zeitpunkt gewesen, eine Wohnung zu kaufen. Jetzt | |
steigen die Preise immer schneller. | |
Wer macht den Haushalt? | |
Hauptsächlich meine Frau. Ich gehe ab und zu mal groß einkaufen, helfe bei | |
Putzaktionen. | |
Wie viel Zeit verbringen Sie mit den Kindern? | |
Zu wenig. Ich sehe sie am Wochenende und im Urlaub, in der Woche vielleicht | |
zwei Stunden am Tag. Wenn ich heimkomme, gehen sie ins Bett. Ich versuche, | |
mich, so gut es geht, einzubringen, am Familienleben teilzunehmen. Aber ich | |
merke natürlich, dass ich da irgendwie raus bin, wenn ich den ganzen Tag | |
arbeite. Wenn ich Urlaub habe, ist das erst mal gar nicht so einfach. Ich | |
bin die Hausarbeit, die Abläufe in der Familie nicht gewohnt, finde das | |
alles furchtbar anstrengend. | |
Würden Sie gern mehr Zeit mit den Kindern verbringen? | |
Prinzipiell natürlich ja. Aber Teilzeit ist in meinem Bereich nicht üblich. | |
Und ich weiß auch nicht, ob ich das wirklich wollen würde. Schon jetzt | |
fühle ich mich komisch, wenn ich pünktlich um sechs gehe und viele Kollegen | |
weiterarbeiten. Ich kann mir nicht vorstellen, über einen längeren Zeitraum | |
nur zu Hause zu sein. Mir würde die Arbeit fehlen. Das kreative Denken, das | |
Gefühl, etwas Produktives zu leisten, die Wertschätzung. | |
Wie lange sind Sie nach der Geburt Ihres Kindes zu Hause geblieben? | |
Beim ersten zwei Wochen. Das war zu kurz. Beim zweiten sechs Wochen. Für | |
meine Frau war es leichter, sich freizunehmen. Gerade im ersten Jahr ist | |
die Mutter die wichtigere Person. Meine Frau hat auch lange gestillt. | |
Wer bleibt zu Hause, wenn ein Kind krank ist? | |
Meine Frau. Oder ihre Eltern, die helfen uns oft. | |
Haben Sie das Gefühl, es ist gut möglich, Familie und Beruf zu vereinbaren? | |
Nein. Es ist unheimlich schwierig, eine permanente Gratwanderung. Seit ich | |
Kinder habe, fühle ich mich in einem ständigen Kampf. Mit meiner Frau, mit | |
der Umwelt, mit mir selbst. Egal, was ich mache, immer habe ich das Gefühl, | |
es ist zu wenig, es ist falsch. Arbeite ich mehr, fühle ich mich schlecht, | |
weil ich das Gefühl habe, die Kinder zu vernachlässigen, den Kontakt zu | |
ihnen zu verlieren. Arbeite ich weniger, fühle ich mich schlecht, weil ich | |
das Gefühl habe, meine Arbeit nicht gut zu machen, weil mir die Anerkennung | |
fehlt. Das sind zwei gegensätzliche Pole in meinem Leben, zwischen denen | |
ich zerrieben werde. Und irgendwo ist ja auch noch ein drittes Bedürfnis | |
da, nämlich neben Arbeit und Familie auch ein bisschen Zeit für mich selbst | |
zu haben. Auch meine Frau ist nicht zufrieden mit der Situation, sie hat | |
sich das anders vorgestellt, es gibt viel Streit. Für mich ist das der | |
größte Konflikt derzeit in meinem Leben. | |
Wie viel schlafen Sie ungefähr pro Nacht? | |
Etwa sechs bis sieben Stunden. Mit Unterbrechungen, die Kinder wachen | |
nachts oft auf. Inzwischen habe ich wirklich Schlafprobleme, kann nicht | |
mehr einschlafen, fange nachts an zu grübeln, bin morgens total übermüdet. | |
Wann waren Sie denn zuletzt krank? | |
Im März hatte ich Grippe. Eine Woche bin ich zu Hause geblieben, dann | |
wieder arbeiten gegangen. Vom Betrieb gibt es da keinen Druck. Die Teams | |
sind so organisiert, dass jede Aufgabe von zwei Leuten abgedeckt ist. Wenn | |
ich kürzer ausfalle, habe ich für die Tage kein Einkommen, das ist zu | |
verkraften. Für den Fall, dass ich wirklich lange ausfalle, habe ich eine | |
Berufsunfähigkeitsversicherung. | |
Wer kümmert sich um Sie, wenn Sie krank sind? | |
Ich mich selbst. Meine Frau würde sich natürlich auch um mich kümmern. Aber | |
ich nehme nicht gern Hilfe an, mir ist das unangenehm, von anderen abhängig | |
zu sein. Zum Glück bin ich nicht oft krank. | |
Fühlen Sie sich manchmal gestresst? | |
Von der Arbeit überhaupt nicht. Von anderen Sachen ja. | |
Haben Sie Angst vor Arbeitslosigkeit? | |
Nein. Als Freiberufler hat man immer Phasen, wo gerade kein Projekt da ist. | |
Aber ich bin mir sicher: Ich finde immer irgendwas. Egal was. Die Welt | |
ändert sich permanent, und solange man flexibel bleibt, ergeben sich immer | |
wieder neue Chancen. Ich glaube, es ist die Verantwortung von jedem | |
Einzelnen, die auch zu suchen. Mir fällt das leicht. Wenn ich vor einer | |
Herausforderung stehe, motiviert mich das. Andere erstarren dann eher. | |
Obwohl ich das natürlich auch schon erlebt habe, dass solch eine | |
Durchhängephase in Existenzangst übergeht. | |
Was macht Ihnen dabei am meisten Angst? | |
Ausgeschlossen zu sein. Geld ist der Zugang zu fast allem in der | |
Gesellschaft. Nicht ins Kino gehen zu können, mir nicht frei aussuchen zu | |
können, was ich heute essen will – das würde ich als krasse Einschränkung | |
empfinden. | |
Könnten Sie sich vorstellen, nicht (lohn) zu arbeiten? | |
Das kommt darauf an, wie man Arbeit definiert. Ich würde immer Projekte | |
realisieren wollen, etwas entwickeln. Aber ich kann mir gut vorstellen, das | |
vom Geldverdienen abzukoppeln. | |
Wenn es ein bedingungsloses Grundeinkommen gäbe, wie hoch müsste es sein? | |
Wenn alle denselben Satz bekommen: 1.000 Euro. Dann würde ich immer noch | |
arbeiten, aber ich wäre viel freier darin, was ich tue. Ich glaube, es | |
würde mich sehr viel zufriedener machen, wenn ich Menschen direkter helfen | |
könnte. Ein Freund von mir arbeitet als Rot-Kreuz-Manager in | |
Krisengebieten. An dem hängt wirklich was. Das bewundere ich sehr. Ich habe | |
viel Spaß an meiner Arbeit, ich mag das Team. Aber manchmal trete ich einen | |
Schritt zurück und denke: Wem hilft meine Arbeit eigentlich, was bringt sie | |
der Menschheit? Und die Antwort: nichts. | |
Wie würden Sie die Schicht oder Klasse bezeichnen, aus der Sie stammen? | |
Ich komme aus einfachen Verhältnissen. Meine Mutter war Sekretärin, mein | |
Vater Koch. Arbeiterklasse würde man das wohl nennen. | |
Haben Sie schon mal Diskriminierung erfahren? | |
Ja, auch wenn ich das damals nicht bewusst wahrgenommen habe. Viele meine | |
Mitschüler hatten einen ganz anderen Hintergrund als ich, an die kam ich | |
nie richtig ran. Das Geld der Familie war die Eintrittskarte in Kreise, aus | |
denen ich ausgeschlossen war. Und später wegen der Kinder. Als ich PaperC | |
verlassen habe, war ein Grund, dass mein Mitgründer es nicht gut fand, dass | |
ich Kinder bekommen habe. Er meinte, das schränke die Arbeit zu sehr ein. | |
Wo in der Gesellschaft sehen Sie sich jetzt? | |
In der Mittel- oder Oberschicht. Letzteres zumindest, was das Einkommen | |
angeht. Ich habe erst mit der Zeit gemerkt, welche Rolle es spielt, woher | |
man kommt. Und welche Rolle das für mich spielt, wo in der Gesellschaft ich | |
stehe. Ich habe Vorstellungen, die ich mit „oben sein“ verbinde. Und | |
gleichzeitig Ängste, diese Erwartungen an mich selbst nicht zu erfüllen, so | |
eine Panik: Was ich auch tue, ich komme nicht oben an. Ich denke oft an die | |
Eigentumswohnung, die möchte ich unbedingt haben. Wenn das nicht klappt, | |
würde ich das als Scheitern empfinden. | |
Wie wünschen Sie sich Ihr Leben in zehn Jahren? | |
Wenn ich ganz frei entscheiden könnte: Ich würde mir wünschen, dass Arbeit | |
als Geldquelle bis dahin abgeschafft ist. Dass sie Teilhabe und | |
Selbstverwirklichung bedeutet. Dass man mit seinen Fähigkeiten etwas fürs | |
Gemeinwohl schafft und sich nicht hergibt, um Geld zu verdienen. Und | |
privat: Ich wünsche mir, dass alles gut geht mit meiner Familie, wir zur | |
Ruhe kommen. Ich wünsche mir innere Zufriedenheit. Davon ganz viel. | |
Woran liegt es, ob sich das verwirklichen lässt? | |
An mir selbst. Ich habe früher viel gejammert, alles auf andere geschoben: | |
meine Eltern, die Gesellschaft, den bösen Kapitalismus. Irgendwann habe ich | |
gemerkt: Ich bin selbst dafür verantwortlich, wie es mir geht, zu hundert | |
Prozent. Wenn einem die Rahmenbedingungen nicht passen, dann muss man eben | |
woanders einen neuen Anfang machen. Selbst für politische Fragen gilt das: | |
Man muss selbst aktiv werden. Ich würde gern ein Grundeinkommen haben. Aber | |
ich kann nicht meckern, dass es das nicht gibt, wenn ich nicht selbst aktiv | |
werde. | |
8 Aug 2012 | |
## AUTOREN | |
Juliane Schumacher | |
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