# taz.de -- 15 Jahre Melt!-Festival: After-Hour neben dem Bagger | |
> Früher wurde in Gräfenhainichen Kohle gefördert, heute schwitzen hier | |
> euphorische Tänzer. Beim 15. Melt!-Festival tanzten 20.000 Besucher rund | |
> um die Riesenbagger. | |
Bild: Schwitzen und Musikhören unter dem Riesenbagger: Melt! 2012. | |
Allein das Gelände! Man wünscht sich beim Ankommen in Ferropolis nahe | |
Dessau, dass es nicht gleich losgeht mit den Konzerten beim Melt!-Festival. | |
Damit man sich erst mal herumtreiben kann auf einem mit ausrangierten | |
Braunkohlefördergeräten bestückten Gelände und zugucken, wie sich die blaue | |
Stunde über die Eisenstadt am See legt. | |
Wie aus den archaisch und zugleich Science-Fiction-artigen Riesenbaggern | |
durch Anleuchten freundliche Saurier werden. Und auch die Menschen | |
anschauen, von denen sich viele erstaunlich ambitioniert in Schale geworfen | |
haben, obwohl die Wettervorhersage von Dauerregen weiß. | |
Mittlerweile kommt ein Drittel der Festivalbesucher aus dem Ausland und | |
setzt der deutschen Affinität zum Zweckmäßigen, von der selbst das | |
hedonistische Partyvolk nicht frei ist, ein bisschen Glitter entgegen. Oder | |
das Gegenteil. Am Samstagabend wird ein als blutige Damenbinde verkleideter | |
Fan bei The Gossip seinen großen Auftritt auf der Hauptbühne haben. Doch es | |
ist wie jedes Jahr: Kaum ist man da, steigt der Stressfaktor, will man | |
diese Band oder jenen DJ sehen. | |
Es hat aber auch wieder gedauert, bis wir uns von unserem Campingidyll | |
losgerissen haben. Weil unsere kleine Reisegruppe immer älter wird, der | |
Rest der Gäste zumindest gefühlt aber immer jünger, haben wir die | |
Melt!-Routine über die Jahre angepasst: Gezeltet wird nicht mit allen | |
anderen auf dem dauerbeschallten Acker, sondern auf einem verwunschenen, | |
nur von ostdeutschen Rentnern frequentierten Campingplatz, unter Bäumen, | |
die auch Tagschlaf ermöglichen. | |
Schließlich will man drei Tage durchhalten. Zwischen Schlafsack und See | |
liegen zehn Sekunden, zwischen Zelt und Festival dagegen eine gute halbe | |
Stunde mit dem Fahrrad – was gewährleistet, dass man einigermaßen nüchtern | |
in den Schlafsack kriecht. | |
## Das schlagende eiserne Herz | |
So eilen wir am Freitagabend direkt zu Brandt Brauer Frick, dem | |
klassikgeschulten Techno-Jazz-Trio, und lassen uns vom tollen | |
Dämmerungshimmel hinter der Bühne am Wasser erinnern, dass man sich vom | |
dichten Ablaufplan auf keinen Fall hetzen lassen darf. Zur weiteren | |
Entschleunigung schauen wir an der Big-Wheel-Tanzfläche vorbei, gleich | |
neben dem größten Bagger, wo, wie auf dem Sleepless Floor vor den Toren des | |
Geländes, immer After-Hour-Gefühl herrscht. | |
Die beiden Dancefloors sind so etwas wie das ewig schlagende eiserne Herz | |
des Festivals. Auf dem Sleepless-Floor reiben die trotz kühlen Temperaturen | |
durchgeschwitzten Tänzer einander schon abends um neun bei John Talabots | |
euphorischem House-Set mit kubikmeterweise Schaum aus einer Riesendüse ab. | |
Das Melt! begann vor 15 Jahren als überschaubare Elektronikveranstaltung, | |
mittlerweile kommen knapp 20.000 Besucher. Auf vier Bühnen werden | |
vielfältige Interessenlagen bedient: von Indie- bzw. Pop-Mainstream (Bloc | |
Party, Gossip, Lana del Rey) über Verschrobenes (Rummelsnuff, Zola Jesus) | |
zu den experimentellen Rändern der Klangforschung (The Gaslamp Killer, | |
Hudson Mohawke). | |
## Ein bisschen zu einzigartig | |
Interessant wird es immer dann, wenn die Aufmerksamkeitsökonomie nicht über | |
den Beat und die Tanzbarkeit der Musik geregelt wird. Im vergangenen Jahr | |
gelang Iron & Wine mit ihrem breitkrempigen Country-Pop ein magischer | |
Moment, diesmal scheiterte Rufus Wainwright in einem vergleichbaren Setting | |
daran, dass er sich ein bisschen zu einzigartig fand. | |
Seinen Zuschauern stellte er sich mit „I am Rufus Wainwright and I am the | |
greatest thing you’ll ever see“ vor, und man wurde das Gefühl nicht los, | |
dass er mit seinen Auftritt ein Perlen-vor-die-Säue-Problem hatte. Um dann | |
eine zwar perfekte, aber irgendwie gleichförmige und eltonjohnhaften Show | |
abzuliefern. Das Publikum blieb wohlwollend, doch der Funke sprang nicht | |
über. | |
Das Finale mit Justice, die auf großem Fuß die endgültige Verschmelzung von | |
Rock und Elektronik zelebrieren, und den Brooklyner Pop-Eklektizisten | |
Yeasayer, deren Auftritt ein großartiges Versprechen ist, dass die Ideen | |
für neue Musik niemals ausgehen werden, ist dann noch mal toll. Nach einer | |
Runde im See am Montagmittag dürfte es ruhig noch ein paar Tage | |
weitergehen. | |
16 Jul 2012 | |
## AUTOREN | |
Stefanie Grimm | |
## TAGS | |
Rock'n'Roll | |
Konzert | |
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