| # taz.de -- Festival Way Out West: No excess, please! | |
| > Adrett gekleidete Menschen trafen sich beim Festival Way Out West, um in | |
| > Göteborg Kraftwerk und Blur zu lauschen. Bier, Wurst und Stagediver | |
| > suchte man vergebens. | |
| Bild: Hot Chip (hier Mitte Juni in Barcelona) gehörten auch zum Line-Up des Wa… | |
| Der Rock ’n’ Roll stirbt nie, hieß es immer. Doch jetzt stehen ihm harte | |
| Zeiten bevor, zumindest wenn man Rock ’n’ Roll neben Sex und Drogen vor | |
| allem mit Exzess und Rebellion gleichsetzt. In Schweden, dem Land, aus dem | |
| die Trends seit geraumer Zeit sicher herüberschwappen, und in seiner | |
| Musikhauptstadt Göteborg, aus der Bands wie José Gonzales, The Knife oder | |
| The Soundtrack of Our Lives kommen, fand am Wochenende das Musikfestival | |
| Way Out West statt. | |
| Ein Festival mitten in der Stadt – ohne Bier, Wurst und Pogen. Dabei sieht | |
| erst mal alles aus wie immer. Leute sitzen in kleinen Gruppen auf dem | |
| Rasen, Menschenmassen strömen hin und her, die Bühnen sind groß, die Musik | |
| ist laut. | |
| Wem es zu laut ist, der kann sich Ohrstöpsel kaufen, die nur den Noise | |
| abtöten, nicht den Sound und die, wenn man sie wäscht, Jahre halten, wie | |
| überall herumschwirrende Verkäuferinnen verkünden. Diese sind mit Abstand | |
| die am häufigsten auftretende Verkaufsschar hier, gefolgt von den | |
| Kaffee-mit-Milch-Anbietern. | |
| Ein Bier hat niemand in der Hand. Zumindest nicht das Publikum vor den | |
| Bühnen, das nur ab und zu die Wasserflasche zückt. Wer Alkohol trinken | |
| möchte, muss sich in ein „Öl“ (Schwedisch für Bier) genanntes und | |
| abgegrenztes Gebiet begeben, das mit Ein- und Ausgangschildern versehen ist | |
| – damit es ja nicht zu Verwirrungen kommt – und in dem der geregelte Ablauf | |
| vor der Theke durch Absperrungen gewährleistet wird, damit sich niemand | |
| vordrängelt. | |
| ## Man bleibt eben nüchtern | |
| Dass man von dort die Bühnen nur in Ausschnitten oder gar nicht sieht, | |
| führt zu organisatorischen Problemen der Musik- und Bierliebhaber: Entweder | |
| man knallt sich die Biere nur so rein, was hier nur die wenigsten tun, oder | |
| man bleibt eben nüchtern. | |
| Der offizielle Grund für diese Alkoholgettos, aus denen trinkende Menschen | |
| den Vorbeilaufenden zuwinken, ist die Gewährleistung der Umsetzung des | |
| gesetzlichen Alkoholverbots für unter 18-Jährige. Von denen laufen beim Way | |
| Out West aber gar nicht so viele rum, was schon allein daran liegen kann, | |
| dass die Headliner Blur und Kraftwerk ihre Hochzeiten in längst vergangenen | |
| Jahrzehnten hatten, in denen die heute Ende 20- bis Anfang 50-Jährigen | |
| popmusikalisch sozialisiert wurden. | |
| In denen sieht auch Veranstalter Joel Borg seine Zielgruppe. „Der Begriff | |
| Festival hat sich in den letzten fünf Jahren verändert“, erklärt er. „Man | |
| assoziiert damit zuerst, irgendwo draußen in einem Zelt zu wohnen und sich | |
| auszutoben. Aber es ist auch durchaus akzeptabel, in einem Bett in der | |
| Stadt zu schlafen.“ | |
| So ist das Way Out West ein Stadtfestival. Einen Zeltplatz gibt es nicht, | |
| die 30.000 Besucher übernachten in Hotels, Pensionen, bei Freunden in | |
| Göteborg. In den Clubs der Stadt findet das nächtliche Programm statt, | |
| nachdem die Open-Air-Bühnen im Stadtpark gegen Mitternacht geschlossen | |
| wurden. | |
| ## „Stay Out“ lautet die Botschaft | |
| Stay Out West heißt dieses Clubprogramm, das die spannendsten Bands von | |
| Swans über John Maus bis zur neuen schwedischen Supergroup Ingrid umfasst, | |
| seinem Namen aber leider gerecht wird: „Stay Out“ lautet zu oft die | |
| Botschaft. | |
| Denn die verschiedenen Veranstaltungsorte sind viel zu klein, um allen | |
| Festivalbesuchern Einlass zu gewähren, so dass in den meisten Fällen nur | |
| die Überpünktlichen eine Chance haben, überhaupt hereinzukommen, bevor sich | |
| eine lange Schlange bildet. | |
| Aber auch hier: keine Spur von Rebellion. Vor dem Konzert der Portlander | |
| Band Chromatics stehen hunderte Menschen brav in der Reihe, unterhalten | |
| sich leise und warten einfach – obwohl offensichtlich ist, dass sie hier | |
| niemals reinkommen werden. Es sei denn, die 300 Leute, die der Theaterclub | |
| fasst, würden noch vor dem Konzert alle gleichzeitig wieder nach draußen | |
| strömen. | |
| Die vollen Clubs sorgen hier jedes Jahr wieder für Diskussionen. Als | |
| Reaktion auf die Kritik gibt es dieses Jahr eine App, mit der man jederzeit | |
| nachschauen kann, wie viele Leute schon vor welchem Club warten. Borg nennt | |
| die App eine Chance, sich überraschen zu lassen und neue Bands zu entdecken | |
| – eben dort, wo man noch reinkommt. | |
| ## Dunkle Postpunkerinnen | |
| In diesem Fall in den Nachtclub Park Lane, und tatsächlich: Die Mädchenband | |
| Savages ist überraschend großartig, wie deren Mitglieder da mit dunklem | |
| Postpunk und viel Hall auf der Stimme zeigen, dass vier Mädchen mit Bass, | |
| Gitarre, Schlagzeug und Gesang kein bisschen andere Musik machen müssen als | |
| vier Jungs. | |
| Auch die Frontfrau der Brooklyner Band Friends ist bemerkenswert, springt | |
| ins Publikum, flirtet alle an, lässt aber ihr Hemdchen an, da es wohl | |
| verboten sei, hier die Brüste zu zeigen, wie ihr jemand vorher erzählt hat. | |
| Es ist eine heile Welt, die Schweden hier darstellt. | |
| Niemandem wird geschadet, niemand wird verstört. Dazu passt die | |
| Entscheidung, auf dem gesamten Festivalgelände kein Fleisch zu verkaufen, | |
| nur vegetarisches und veganes Essen. Nicht nur, weil dafür Tiere | |
| geschlachtet werden müssten, sondern auch, um der Umwelt nicht zu schaden, | |
| wie ein Informationsblatt erklärt. | |
| Seit sieben Jahren gibt es das Way Out West, das immer erfolgreicher wird. | |
| Nachhaltigkeit wird großgeschrieben, angeblich ist sogar das Gaffa-Tape des | |
| schön geschmückten Festivals biologisch abbaubar. Auch dieses Jahr ist es | |
| wieder ausverkauft, ungefähr 250 Euro kostet ein Ticket für die drei Tage, | |
| in denen Bands wie Bon Iver, The Black Keys, Hot Chip, Feist oder Mike Snow | |
| auftreten. | |
| ## DJs im Klamottenladen | |
| Bands, die angesagt sind, die fast alle gut finden, die nicht anecken. „Ihr | |
| seid so ein schönes Publikum“, ruft Florence von Florence + the Machine. | |
| Und ja, alle, wirklich alle sind sehr gut angezogen. Alle sehen gleich aus, | |
| so individuell. Der vielbeschworene Hipster ist jedermann. | |
| Die Hauptsache scheint zu sein, dass hier niemand etwas anhat, was auch nur | |
| ein anderer unter den Tausenden genauso trägt. Aber wen wundert’s in einer | |
| Stadt, in der samstagmittags DJs Platten in Klamotttenläden der Innenstadt | |
| auflegen, während man selbst gerade eine Jeans anprobiert. | |
| Florence trägt ein wallendes, langes Kleid, hüpft gut gelaunt von einer | |
| Bühnenseite, ihr tätowierter Bandkollege spielt Harfe, die Popmelodien | |
| stimmen. Alle klatschen mit, wippen im Takt, lächeln, checken ihre Mails. | |
| Ausrasten ist nicht. Doch! Zu Refused. | |
| Die Schweden aus dem Norden haben hier ein Heimspiel im letzten | |
| Abendsonnenschein. Sänger Dennis Lyxzén ist wild, steigt hinunter zu den | |
| Fans, hinein in die Masse, stellt sich auf ihre Schultern. Er darf das. | |
| Aber nur er. Stagediving ist untersagt, wer es dennoch tut, wird vom | |
| Gelände verwiesen. | |
| ## Schnell noch das Foto von Wilco hochladen | |
| So steht es in den Regeln. Doch wer will das schon, wenn er ein teures | |
| Smartphone in der Hosentasche hat, auf dem er noch das Foto von Wilco | |
| hochladen muss? Billy Bragg ist auch da und trinkt Tee. Schon um 15 Uhr | |
| spielt der alte Haudegen unter den Singer-Songwritern und ist erfrischend | |
| unspektakulär, dafür aber politisch. | |
| Er fordert alle auf, mit ihm gegen ungerechte Kredite für Afrika zu singen, | |
| regt sich über die immer weiter auseinandergehende Schere zwischen Arm und | |
| Reich auf, zeigt sich gerührt von zwei ihm auf einer russischen Fahne ihre | |
| Liebe erklärenden Fans und gibt ihnen seine Unterstützung für Pussy Riot | |
| mit auf den Weg. Zum Schluss schmeißt er den Teebeutel seines | |
| Bühnengetränks mit einem gekonnten Wurf in die Menge, und tatsächlich fängt | |
| ihn jemand. | |
| Ein entspannter Typ ist das, der Billy Bragg, findet auch Damon Albarn von | |
| Blur, die inzwischen aus der Gorillaz-Versenkung und aus anderen | |
| Nebenprojekten wieder aufgetaucht sind, um eine Greatest-Hits-Show | |
| abzuliefern. „Schweden war das Land, das uns immer verstanden hat und von | |
| Anfang an sehr offen war“, bedankt sich Albarn im Jubel. Schweden verstünde | |
| ihn auch heute noch. Und dann alle im Chor: Tender is the Night. | |
| Zuallerletzt stehen die vier Musiker von Kraftwerk nahezu bewegungslos auf | |
| der Bühne. Hinter ihnen eine einfach animierte Autobahn, die sich das | |
| Publikum durch 3-D-Brillen anschaut. „Wir fahrn, fahrn, fahrn …“ Mit ihrer | |
| Emotionslosigkeit, ihrer Monotonie, ihrem Gleichgeschaltetsein trotz | |
| Extravaganz treiben die Deutschen die Atmosphäre auf die Spitze. Doch | |
| Kraftwerk wollten den Rock ’n’ Roll eh noch nie retten. | |
| 13 Aug 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Juliane Streich | |
| ## TAGS | |
| Pop | |
| Musik | |
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