# taz.de -- Theaterfestival in Avignon: Im falschen Film mit Louis de Funès | |
> Vor lauter Comedy übersieht man die leiseren Spieler mit den guten | |
> Konzepten: Vom Kampf der freien Gruppen um Aufmerksamkeit auf einem | |
> gigantischen Theaterfestival. | |
Bild: Der neue Präsident war schon beim Festival in Avignon, dass ihm die Kuns… | |
AVIGNON taz | Wie die Kürbisblüten einen Komposthaufen überziehen im Juli | |
Theater die Stadt Avignon. Wo es nur eine Möglichkeit gibt, etwas | |
anzuheften, an Laternenpfählen, Dachrinnen, Absperrgittern – alles ist | |
vollgehängt mit Plakaten. Tausend Truppen im „Off“-Festival buhlen um | |
Publikum. Keine Bar, in der sie nicht Flyer verteilen, kein Café, vor dem | |
nicht gerade ein Mini-Auftritt stattfindet. Die Truppen im „Off“ haben’s | |
schwer: Oft kämpfen sie vor halb leeren Sälen. | |
Neben dem überragenden „In“, dem kuratierten Programm mit knapp vierzig | |
Produktionen und einem Budget von 12 Millionen Euro, davon 55 Prozent | |
öffentliche Subvention, ist das „Off“ eine kleine und gleichzeitig kaum | |
kontrolliert wuchernde Struktur: alles selbstfinanziert, rund 1.200 | |
Produktionen, die sich Platz verschaffen, wie sie können. Die Papststadt | |
ist reich an mehr oder weniger geeigneten Sälen und Kapellen. Das „Off“ hat | |
nur den Etat von einer Million Euro für Werbung und Kommunikation, um sein | |
„Village“ zu betreiben, eine zentrale Anlaufstelle, und für die Publikation | |
eines Gesamtprogramms mit der Anmutung des Telefonbuchs. | |
Der Eintrag darin kostet 300 Euro, obendrein müssen die Truppen ihre | |
Saalmieten amortisieren – Avignon bringt den freien Truppen Aufmerksamkeit, | |
im Idealfall Folgeverträge und Kritiken, aber es ist kein Geschäft. Außer | |
man zielt auf die ganz breite Masse: mit den bekanntesten Chansons, viel | |
Brel dieses Jahr zum Beispiel, das zieht immer. Oder mit dem Repertoire, | |
Molière, Shakespeare – viele vermissen den Kanon im „In“, das eher die | |
neuen Tendenzen abbildet. | |
## Einfachste Witze, Kalauer auf den Affichen | |
Aber so will man die Klassiker dann auch nicht sehen: als furchterregende | |
Kostümschmiere. Oder man versucht es mit den einfachsten Witzen, kalauert | |
auf den Affichen: „Bonjour Ivresse“ („Hallo Suff“), „Roméo hait Juli… | |
was klingt wie „Roméo et Juliette“, aber Hass bedeutet. Am ersten Abend des | |
Festivals ziehen sie alle in einer großen Prozession durch die Straßen, | |
Tschingderassabum, das hat etwas von einer gewaltigen Danse macabre. | |
Vor lauter Comedy übersieht man da womöglich die leiseren Truppen, die aber | |
zum Teil spannende Stoffe vorschlagen. So den wenig bekannten Text eines | |
bekannten Autors: Eric-Emmanuel Schmitt, der Paulo Coelho von | |
Frankreich.Von ihm führen drei junge Schauspieler „Le Bâillon“ auf (Der | |
Knebel), ein Gespräch mit dem Jenseits. David ist an Aids gestorben. Er | |
erzählt von der Liebe, die ihn umgebracht hat, und dem Mann, der ihm das | |
Leben gezeigt hat, ein sehr gebrochenes Hohelied der Liebe – und daran | |
hängen die Schauspieler den weit härteren Text „C’était hier“ (Es war | |
gestern), den der Regisseur der Truppe, Bruno Dairou, geschrieben hat. | |
## Ein Pamphlet Le Pens kontern | |
Es geht um Jean-Marie Le Pens Ausfälle gegen die „Aidsler“, die er wie | |
Aussätzige wegsperren wollte. Auch hier gehen „Le Baillon“ über das | |
Pamphlet hinaus und schauen auf die Intimität eines Menschen, sein Lieben, | |
seine Zweifel, sein Kämpfen; eine engagierte, wohltuend ernsthafte | |
Produktion. | |
Oder die Westschweizer Compagnie „Un Air de rien“, die den Filmcholeriker | |
Louis de Funès auf die Bühne bringt, in einem Abend, der so klangvoll heißt | |
wie der Künstler selbst, nämlich „Louis Germain David de Funès de Galarza�… | |
Funeske Figuren treten auf, aber sie fallen aus der Rolle: tauchen im | |
falschen Film auf, in der falschen Szene, erzählen als Schauspieler über | |
Funès oder die Produktionsbedingungen … es ist sehr komisch und sehr | |
schlau, anhand von Funès ein Abend darüber, was mit den Mitteln des | |
Komischen auf der Bühne zu erreichen ist. | |
## Das anonyme Zimmer füllt mit gespenstischen Ablagerungen | |
Es ist der Gruppe zu wünschen, dass sie den Weg geht wie Guillaume Vincent, | |
der vor zwei Jahren im „Off“ aufgefallen ist und nun im „In“ für die | |
kurioseste Überraschung sorgt, in der ganz zauberhaften kleinen Kapelle der | |
„Pénitents blancs“: Da hat er einen eigenen Text inszeniert, „La Nuit | |
tombe“ (Die Nacht bricht ein). | |
Die Kapelle wird zum Hotelzimmer, merkwürdige Schicksale überlagern sich, | |
eine Mutter und ihr schlafloses Kind an Weihnachten, zwei Schwestern am Tag | |
der Hochzeit ihres Vaters, mit der Zeit füllt sich das anonyme Zimmer mit | |
gespenstischen Ablagerungen, die Vincent mit viel anspielungsreicher Ironie | |
und großem, wenn auch schütterem Glamour in Szene setzt; das trägt eine | |
starke Handschrift. | |
17 Jul 2012 | |
## AUTOREN | |
Andreas Klaeui | |
## TAGS | |
Reiseland Frankreich | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Sozialistisches Frankreich räumt auf: Nicolas Sarkozys Vermächtnis revidiert | |
Das Rentenalter sinkt wieder, die Mehrwertsteuer wird erst gar nicht | |
angehoben. Hollande zeigt so, dass er umsetzen will, was er versprochen | |
hat: „Wechsel jetzt“. | |
Pariser Ausstellung „Histoires de Voir“: Auf der Suche nach dem Land ohne �… | |
Die Ausstellung in der Fondation Cartier demonstriert Fantasie und Können | |
„naiver“ Künstler. Der Anspruch, Kunst, nicht Kitsch zu sein, hat mit | |
formalen Kriterien nichts zu tun. | |
Debatte Hollandes Sozialkonferenz: Pariser Schmusekurs | |
Frankreichs Präsident François Hollande hat Arbeitgeber und Arbeitnehmer an | |
einen Tisch gesetzt. Im ersten Anlauf hat das neue Dialogmodell | |
funktioniert. | |
Deep-Purple Keyboarder gestorben: Byebye, my Lord | |
Jon Lord ist tot. Der schwerkranke Deep-Purple-Musiker wurde 71 Jahre alt. | |
Nach seinem Ausscheiden aus der Band 2002 war Lord erfolgreich als | |
Solokünstler unterwegs. | |
Neonazis verprügeln Kunsthaus-Besucher: Von der Vernissage in die Notaufnahme | |
Bei der Eröffnung einer Ausstellung im Erfurter Kunsthaus haben Neonazis | |
mehrere Gäste verprügelt. Auch eine herbeigerufene Polizistin liegt noch im | |
Krankenhaus. | |
Region Bordeaux: Der Wein betrinkt uns | |
Frankreichs Südwesten ist berühmt für seinen Wein. Die sandgestrahlte, | |
verkehrsberuhigte Altstadt von Bordeaux ist beispielhaft für eine gelungene | |
Stadtplanung. |