| # taz.de -- Pariser Ausstellung „Histoires de Voir“: Auf der Suche nach dem… | |
| > Die Ausstellung in der Fondation Cartier demonstriert Fantasie und Können | |
| > „naiver“ Künstler. Der Anspruch, Kunst, nicht Kitsch zu sein, hat mit | |
| > formalen Kriterien nichts zu tun. | |
| Bild: Das Plakat gibt einen fröhlichen Vorgeschmack auf die nicht-kitschige, �… | |
| PARIA taz | Auf den ersten Blick könnten die reizvollen kleinen Frösche, | |
| Tapire, Wildschweine oder Papageien, die Ronaldo Costa aus Holz schnitzt, | |
| genauso wie die eleganten Jaguare von Valdir Benites als Touristenkitsch | |
| abgetan werden, zumal das ihre heutige Bestimmung, wenn auch nicht ihre | |
| kulturelle Genealogie, durchaus trifft. Auf den zweiten Blick aber wird der | |
| Kunstanspruch unübersehbar, den die Katzen, Hunde und das sonstige Getier | |
| Südamerikas erheben können. Er rührt aus dem Bruch mit der Genealogie. | |
| Der Anspruch, Kunst, nicht Kitsch zu sein, hat mit stilistisch-formalen | |
| oder funktionalen Kriterien nichts zu tun. Er ist struktureller Natur und | |
| in einem für die Moderne typischen Prozess der Entfremdung begründet. Sind | |
| die Verbindungen zu ihren spirituellen und rituellen Ursprüngen erst | |
| geschwächt, taugen die Tiergestalten für ganz andere, neue | |
| Verwendungszusammenhänge wie etwa den touristischen. | |
| Freilich kann dann indigenes Wissen und Können auch in individueller | |
| Autorenschaft aufgehoben, in einem neuen künstlerischen Anspruch und | |
| persönlichen Stil negiert und gleichzeitig im traditionellen Verfahren, mit | |
| dem glühenden Eisen die Tiergestalt in das weiche Holz zu brennen, bewahrt | |
| werden. | |
| ## Ewige Ruhe | |
| In der Fondation Cartier in Paris, wohin die Tiere des Dschungels für die | |
| Ausstellung „Histoires de Voir“ gereist sind, wird dazu noch ein | |
| politischer Gesichtspunkt dieser Kunst deutlich. Denn Ronaldo Costa und | |
| Valdir Benites gehören zu den knapp 50.000 Guarani, die das zahlenmäßig | |
| stärkste, gleichwohl in seiner Existenz stark geschwächte, indigene Volk | |
| Brasiliens bilden. | |
| Von Beginn an, also seit dem 16. Jahrhundert, standen sie in Kontakt mit | |
| den Europäern, denen an den Guarani sofort „ihr ständiges Verlangen, neues | |
| Land zu suchen“, auffiel, „auf dem sie glauben, Unsterblichkeit und ewige | |
| Ruhe zu finden“. | |
| Diese Suche nach dem „Land ohne Übel“ bildete einen wesentlichen | |
| Bestandteil ihrer Kultur und Lebensweise, den die europäischen | |
| Neuankömmlinge geschickt für ihre Interessen instrumentalisierten. Heute | |
| findet sich das Volk der Guarani ohne Land, in einem Leben voller Übel | |
| wieder. Ihrer eigentlichen Lebensgrundlage beraubt, dem tropischen | |
| Regenwald im Süden und entlang der Ostküste Brasiliens, der schon lange den | |
| Viehweiden, Soja- und Zuckerrohrplantagen zum Opfer fiel, droht nun auch | |
| den Guarani der Untergang. | |
| ## Das Schnitzen ist unverzichtbare Einkommensquelle | |
| Eingepfercht in Schutzgebieten, die für die Sicherung ihres | |
| Lebensunterhalts viel zu knapp bemessen sind, wird das Schnitzen und | |
| Verkaufen der Tiere des Dschungels, die mit dem Urwald verschwunden sind, | |
| zur unverzichtbaren Einkommensquelle in ihrem Überlebenskampf. Ronaldo | |
| Costas und Valdir Benites’ Vermögen, ökonomische und politische Nötigung in | |
| poetische, künstlerische Emanzipation zu übersetzen, findet sich in | |
| ähnlicher Form auch bei den anderen Künstlern und Künstlerinnen der | |
| Ausstellung. | |
| Auf dieser Grundlage hinterfragen die „Histoires de Voir“ zu Recht Begriffe | |
| wie „naive“, „primitive“ oder „tribale“ Kunst. Nicht anders als die | |
| interessanteste zeitgenössische Kunst, regen die mehr als 250 Geschichten | |
| zum Sehen von rund 35 Künstlern aus aller Welt das fantasievolle Nachdenken | |
| an. | |
| ## Intellektuell und diskursiv anspruchsvoll | |
| Obwohl die Ausstellung in der Fondation Cartier mit Exponaten von einer | |
| lange nicht mehr gesehenen Farbenpracht auftrumpft und einer geradezu | |
| unwahrscheinlichen visuellen Einbildungskraft erfreut, ist sie | |
| intellektuell und diskursiv anspruchsvoll. Exponate wie die grandiose | |
| Gruppe von Keramikskulpturen der Familie Ortiz sind eine wunderbar | |
| dingliche Selbstversicherung, mithin Selbstreflexion postkolonialer | |
| Befindlichkeit. | |
| Denn wie Virgil Ortiz in Paris erklärt, handelt es sich bei den Keramiken | |
| um einen bewussten, konzeptuellen Rückgriff auf alte Vorlagen, die eine | |
| Fotografie aus dem Jahr 1880 dokumentiert. | |
| Die Idee brachte vier Generationen der Ortiz-Familie zusammen, einer alten, | |
| matrilinear organisierten Töpferdynastie der Cochiti Pueblo, die in New | |
| Mexico beheimatet sind. Gemeinsam schufen sie die 21 Figuren der „Vertigo“ | |
| genannten Werkgruppe. „Vertigo“ ist eine großartige, satirische | |
| Momentaufnahme des Alltags im damals noch Wilden Westen, als mit der neu | |
| gebauten Eisenbahn allerlei Opernkompanien, Freak-Shows und | |
| Zirkusunternehmen in den Süden kamen. | |
| ## Schwindelerregende, überlegene Ironie | |
| Die Belustigung der überraschten Pueblo Indianer kommt sichtlich in ihren | |
| Keramiken zum Ausdruck: denn alle, selbst der Frosch und das siamesische | |
| Zwillingspaar, scheinen mit weit aufgesperrtem Mund und hochkonzentrierter | |
| Miene bemüht, das hohe A zu treffen. Ja, diese überlegene Ironie ist | |
| schwindelerregend. | |
| Ganz ähnlich fasziniert den Betrachter noch heute die moderne Schönheit der | |
| ersten Tafelmalerei aus dem Kongo, ihre Freiheit in der Motivwahl wie der | |
| Komposition. Sie entstand in den 1920er Jahren, als der belgische | |
| Kolonialbeamte Georges Thiry vor allem Albert Lubaki, aber auch andere | |
| kongolesische Künstler dazu bewegen konnte, ihre Wandmalereien auf Papier | |
| zu praktizieren. | |
| ## Schwarze Bewohner | |
| Schon 1929 wurde Lubaki im Palais des Beaux-Arts, Bruxelles, ausgestellt. | |
| Eine spätere Ausstellung in Rom, bei der auch Lubakis Kollege Djilatendo | |
| (Tshyela Ntendu) vertreten war, ließ einen anderen ihrer Förderer darüber | |
| klagen, dass es unmöglich sei, Bilder der Künstler zu präsentieren, in | |
| denen sie den industrialisierten Kongo und seine schwarzen Bewohner | |
| angezogen, womöglich noch mit Fahrrad zeigten. Auch in Paris wird dieser | |
| Aspekt nur am Rande und als noch heute lebendige Tradition, die sich in | |
| Bildern von Bürgerkriegen, sozialen Unruhen und von der Bedrohung durch | |
| Aids fortsetzt, nicht gezeigt. | |
| Aber vielleicht braucht es das auch nicht. Denn anders als etwa bei Luc | |
| Tuymans’ blass raunenden Bildzitaten zur kolonialen Vergangenheit des | |
| Kongo, die der belgische Malerstar mit seinen verbalen Erläuterungen und | |
| politischen Kommentaren aus ihrem ästhetischen Koma erwecken muss, rufen | |
| noch Lubakis, Djilatendos oder Kayembes tierseligste oder abstrakteste | |
| Bilder unmittelbar unsere gerne etwas üppig blühende kulturelle Fantasie | |
| wie unser eher bescheidenes politisches Wissen auf. | |
| Und genau darin ist die Schau grandios: Dass sie uns trotz all der fremden | |
| Kunst nicht exotisch kommt und uns das Denken nicht aus-, sondern lustvoll | |
| antreibt, und zu guter Letzt endlich wieder Staunen macht. | |
| 18 Jul 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Brigitte Werneburg | |
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