# taz.de -- Fotografie-Ausstellung Diane Arbus: Zeremonien der Gegenwart | |
> Die Kamera war ihr ein Freibrief, sich dem Fremden zu nähern: Eine | |
> Retrospektive in Berlin zeigt Diane Arbus' Werk – Klassiker, aber auch | |
> Unbekannteres. | |
Bild: Junger Mann mit Lockenwicklern zu Hause in der West Street 20th Street, N… | |
Ist das Leben konzentrierter, wenn man ein paar Zentimeter kleiner ist als | |
der Durchschnitt? Ballt sich Erfahrung und Erinnerung womöglich dichter in | |
kleinwüchsigen Menschen als in anderen? Die Frage taucht auf vor einer | |
Fotografie von Diane Arbus, „Russische Liliputanerfreunde in einem | |
Wohnzimmer in der 100th Street, New York City, 1963“. Vermutlich, weil in | |
diesem Wohnzimmer so viel zusammenkommt, die Erfahrung des Exils und des | |
Lebens als immer sichtbare Ausnahme. | |
Die beiden Frauen in geblümten Schürzen und der Mann sind noch in der | |
Bewegung, für die Fotografin zusammenzurücken, schauen direkt in ihr | |
Objektiv, ein Lächeln beginnt gerade erst. Vieles in dem dunklen Raum | |
voller Erinnerungsstücke hinter ihnen wirkt etwas zu groß und zu schwer, zu | |
raumverdrängend angesichts der kleinen Gruppe. | |
Und wie sollen die vier, die Arbus als „Eine junge Familie aus Brooklyn | |
beim Sonntagsausflug, New York City, 1966“ zeigt, ihre Bedürfnisse jemals | |
unter einen Hut kriegen? Sie, mit hochtoupierten Haaren und betonten | |
Augenbrauen, den Mantel in Leopardenoptik über dem gleichen Arm tragend, | |
der das Kleinkind hält, und er, mit der Teddytolle, selbst noch sehr grün | |
hinter den Ohren, vom schielenden Sohn an der Hand gezogen. Man ahnt ihre | |
Unlust, die eigenen Wünsche hintanzustellen. Statt Coolness strahlen sie | |
doch eher Unsicherheit aus und Signale für kommende Dramen. Nein, ein | |
nettes Bild ist das nicht. | |
## Charakteristisches Quadrat | |
Dass sie zu nett sein könnte gegenüber den von ihr Fotografierten, | |
vielleicht sogar ein bisschen falsch, war eine Sorge der Fotografin Diane | |
Arbus. Ihre Kamera dagegen, „ein Freibrief, sich Fremden zu nähern“, sei | |
kalt und streng, und was sie gesehen hat, war für die Fotografin oft erst | |
im Nachhinein, bei der Vergrößerung zu entdecken. So ist es nachzulesen in | |
„.diane arbus.“, einem vor 40 Jahren bei Schirmer/Mosel herausgegeben Band | |
ihrer Fotografien, der jetzt wieder aufgelegt wurde. Anlass dafür ist die | |
Ausstellung „Diane Arbus“, die zurzeit im Berliner Martin-Gropius-Bau zu | |
sehen ist. | |
Mitgearbeitet haben The Estate of Diane Arbus aus New York, die Fotomuseen | |
von Winterthur und Amsterdam, das Jeu de Paume aus Paris. Angesichts dieser | |
geballten Veranstaltermacht überrascht der Entschluss, die Fotografien von | |
Diane Arbus ohne eigene Publikation und unkommentiert auszustellen, ist man | |
doch inzwischen gewohnt, mit Kunsterklärungen versorgt zu werden. Aber es | |
ist wohltuend, ohne die Ausrufezeichen der Bedeutung den Klassikern von | |
Arbus wieder zu begegnen und auch Unbekannteres aus der Zeit, bevor sie zu | |
ihrem charakteristischen quadratischen Format fand, zu sehen. | |
Diane Arbus (1923–1971) ist berühmt. Nicht nur, weil ihre Fotografien, die | |
1967 zum ersten Mal im MoMa in New York ausgestellt waren, durch ihre Art | |
des Zugangs auf den Menschen eine neue Herausforderung im Genre der | |
Fotografie markierten, sondern auch, weil ihre Bilder aus den sechziger | |
Jahren vielen sich in den anschließenden Jahrzehnten entwickelnden | |
Diskursen Referenzpunkte lieferten. | |
Für die Theoretiker von Queerness sind viele ihre Bilder Ikonen, längst | |
nicht nur die von Transvestiten oder Transsexuellen, sieht man doch fast | |
allen von ihr Erfassten die Mühe an, Weiblichkeit oder Männlichkeit | |
darzustellen. Selbst da, wo sie ohne die üblichen Codes auskommen müssen, | |
im Nudisten-Camp, dessen Besucher bei Arbus so prüde und unerotisch wirken | |
wie das Gras, auf dem sie sitzen, hart und stoppelig. | |
Diane Arbus fotografierte die Tattoos von Artisten, lange bevor die | |
Codierung der Haut von der Kulturwissenschaft entdeckt wurde. Sie ging zu | |
Tanzvergnügen von Behinderten und suchte die Kleindarsteller von Sideshows | |
auf. Jede Theorie, die ein Anderssein aufgriff, um von dort aus das | |
Beschränkende und Konstruierte der gesellschaftlichen Normen zu | |
kritisieren, findet bei ihr Material, denn sie lässt die Konstruktion | |
augenfällig werden. | |
## Gewohnheiten festhalten | |
In ihrem Durchqueren so vieler Milieus liegt etwas Utopisches, die Hoffnung | |
auf ein Ende der Ausgrenzung, die, zumal vor dem Hintergrund der | |
restriktiven Homosexuellen-Politik der USA noch in den Sechzigern, auch | |
durchaus etwas Politisches hatte. Ob die Fotografierten unter ihrem Status | |
leiden, ob Empathie oder Trauer Motive von Diane Arbus waren – das ist | |
merkwürdigerweise nicht auszumachen. | |
Von ihr selbst ausgesprochen, klingt ihr Interesse sehr sachlich: „Ich | |
möchte die bedeutenden Zeremonien der Gegenwart fotografieren, weil wir in | |
unserem Leben im Hier und Jetzt dazu neigen, nur das Zufällige, das Nutz- | |
und Formlose daran wahrzunehmen. […] So wie Großmütter Lebensmittel | |
einwecken, möchte ich diese Gewohnheiten festhalten“, ist eines der | |
Arbus-Zitate, die im letzten Raum der Ausstellung als Wandtexte zu lesen | |
sind. | |
Das Eintauchen in das Universum von Diane Arbus kann auch die Gefahr der | |
Romantisierung und Verklärung all dieser Nischen und (sub)kulturellen | |
Milieus bergen. Zumal heute schon das Medium der Schwarz-Weiß-Fotografie, | |
die harten Abzüge ohne Retuschen, die Anmutung einer vergangenen Schönheit | |
haben. Aber auch über diese Anwandlung helfen letzten Endes die Blicke | |
hinweg, mit denen die Fotografierten ihr und jetzt uns begegnen. | |
Eingeweckte Gegenwart. | |
## „Diane Arbus“, bis 23. September, martin-Gropius-Bau, Berlin. „.diane | |
arbus.“, Schirmer/Mosel, 29,80 Euro. | |
17 Jul 2012 | |
## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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