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# taz.de -- Debatte Bildung: Abitur an die Realschulen
> Das planlose Stop and Go bei der Gymnasialzeit könnte am Ende zu einem
> historischen Kompromiss im ewigen deutschen Schulstreit führen. Und zu
> neubenannten Schulen.
Bild: Ob 2017 oder 2018, wird sich noch herausstellen.
G8 steht für den Club der mächtigsten Staaten der Welt. Und für das
beschleunigte Achtjahresgymnasium. Für Eltern freilich ist G8 Symbol für
den größten anzunehmenden Unsinn von Schulverwaltung. Keine Schulreform
verlief je so chaotisch wie das Turbogymnasium. Es raubt vielen Kindern die
Freizeit, es macht das Gymnasium zur Farce. In Berlin gibt es sogar die
Variante eines siebenjährigen Höllenritts zum Abitur.
Kaum aber ist das Gymnasium in Deutschland halbwegs am Laufen, bremsen jene
Ministerpräsidenten es wieder ab, die einst seine Beschleunigung
durchdrückten. Man glaubt es kaum, was die Politik Schülern und Schulen
anzutun bereit ist. Schulverwaltung mag vieles können – Schule verwalten
kann sie nicht.
Dennoch könnte aus dem Gymnasial-Gemurkse etwas Gutes werden. Denn die
beiden sich durchsetzenden Laufzeiten von acht und neun Jahren könnten zu
zwei unterschiedlichen, aber gleichwertigen Wegen zum Abi führen. Den Unis
ist es ja egal, ob ihre StudienbewerberInnen die Hochschulreife im Turbo-
oder im Denkergang errungen haben. Für die Gesamtschule wäre es ein Segen,
wenn sie mit Neunjahres-Abiturienten ihre Lernklientel verbessern könnte.
Und das tut sie. Integrierende Schulen profitieren ungemein von der neuen
Lust des Bildungsbürgertums am Abitur nach 13 Jahren Lernen.
Beispiel Berlin: In der Hauptstadt läuft eine der größten Schulreformen der
Geschichte, die Fusion von Haupt- und Realschulen zu „integrierten
Sekundarschulen“. Sie funktioniert erstaunlich gut. Obwohl von
organisierten Eltern, Gymnasialrektoren und sogar der Bundeskanzlerin
zunächst madig gemacht, trägt sich Wundersames zu: Nicht die Gymnasien sind
Berlins Publikumslieblinge, sondern die neuen Sekundarschulen – und das
obwohl das Elternwahlrecht für die höhere Schule praktisch frei gegeben
ist.
Das heißt, jeder könnte ans Gymnasium. Auf den Plätzen eins bis zehn der
beliebtesten weiterführenden Schulen aber rangieren integrierte Schulen.
Was heißt das? Die Eltern wählen lieber den fröhlichen Spatz Gesamtschule
in der Hand als die schnelle Taube Gymnasium auf dem Dach – sofern auch der
Spatz zum Abi flattern darf.
## Beinahe im Strafgesetzbuch
Beispiel Niedersachsen: Obwohl unter Christian Wulff die Gesamtschule
beinahe ins Strafgesetzbuch Eingang fand (die Schulform wurde zum
Auslaufmodell erklärt), feiert die integrierende Schule in Niedersachsen
riesige Erfolge: Zwei Gesamtschulen aus Hildesheim und Göttingen gewannen
den renommierten Deutschen Schulpreis, die Zahl der Gesamtschulen steigt
unaufhaltsam.
Die Eltern vor Ort entscheiden sich in lokalen Schulvolksabstimmungen
regelmäßig für diese einst so verdammte Schulart aus den 70er-Jahren. Der
entscheidende Schub kam in Niedersachsen – durch das Schnellabi in acht
Jahren. Viele Eltern nahmen das zum Anlass, ihre Kinder an die Gesamtschule
zu retten, wo sie neun Jahre aufs Abitur lernen können.
Was bedeuten diese Entwicklungen? Sie weisen einen klugen Ausweg aus einer
Sackgasse und einem erbitterten Schulkrieg. Seit Willy Brandt mehr
Demokratie wagen wollte und sogar mancher CDU-Mann wie etwa Bernhard Vogel
für Gesamtschulen eintrat, wurde diese Schulform zum Hassobjekt der Nation.
Die Gymnasialfans hielten den Gesamtschul-Anhängern genussvoll die
schwachen Ergebnisse der verhassten Einheitsschule vor. Die
Gesamtschul-Jünger keiften zurück, dass ein gutes Nebeneinander der beiden
Oberschulen nicht möglich sei, solange die Gymnasien wie Magneten die
besseren Schüler aus den Gesamtschulen abziehen.
Jetzt, mit G8 und G9, ist plötzlich eine andere Situation da: Beide Formen
sind heute attraktiv – auch für Bildungsbürger; beide sind gleichwertig –
wenn auch verschieden. Bringt ausgerechnet das verzwickte G8/G9 Frieden in
einen Schulkrieg, der in Deutschland geführt wird – im Grunde seit sich
1869 das humanistische und das Realgymnasium um das Abiturprivileg zu
streiten begannen?
Aber Schulpolitik ist nicht rational. Die niedersächsische Landesregierung
etwa stützt nicht etwa den Elternwillen, sondern sie konterkariert, ja
sabotiert ihn. So zwang der Kultusminister des Landes, Bernd Althusmann
(CDU), auch Gesamtschulen das achtjährige Abitur auf – mit der absurden
Begründung, man dürfe Gesamtschulen nicht bevorzugen. Das einzig Gute an
diesem Argument ist, dass seine Dummheit und Skrupellosigkeit für jedermann
durchschaubar ist. Eltern wählen Regierende, die so intelligent Politik
machen wollen, einfach ab.
## Vorschläge für den Süden
Aber wie könnte ein Nebeneinander von Schulen mit zwei Geschwindigkeiten
zum Abitur in Bayern oder Baden-Württemberg gelingen? Immerhin sind das die
großen und leistungsorientierten Länder, in denen es praktisch keine
Gesamtschulen gibt.
In Baden-Württemberg werden gerade fleißig Gesamtschulen, sprich
Gemeinschaftsschulen eingeführt. Und auch für Bayern gäbe es eine Antwort.
Aber es ist nicht jene, die Kultusminister Ludwig Spaenle (CSU) mit dem
verkorksten „freiwilligen Ergänzungsjahr“ gegeben hat: Wie soll man diese
Ehrenrunde für schwächelnde Gymnasiasten sinnvoll ins Schulleben
integrieren? Zu sehr ähnelt sie dem Sitzenbleiben, das heute fast niemand
mehr gutheißt – schon gar keine späteren Abiturienten.
Nein, die revolutionäre Antwort für Bayern könnte heißen, das neunjährige
Abitur an den Realschulen anzubieten. Nirgends in Deutschland sind
Realschüler besser dort. Es wäre eine verdiente Belohnung für die elitären
Realschullehrer, wenn sie – endlich! – ein Abitur abnehmen dürften. Die
weißblauen Realschulen sind auch bei den Eltern sehr beliebt. Ein Abi würde
gewiss einen Run auf diese Schulform auslösen. Die bayerischen
Betongymnasien müssten sich dann auf Schülersuche begeben – und
reformieren.
Nur eins müsste man den Realschulen abverlangen: dass sie die bisherigen
Hauptschulen mit aufnehmen. Dann gäbe es auch in Bayern eine Art
Gesamtschule – nur hätte sie einen anderen Namen: Realschule mit
gymnasialer Oberstufe G9. Eigentlich ein schöner Name. Ganz ohne den
Schmock der 1970er-Jahre.
3 Aug 2012
## AUTOREN
Christian Füller
## TAGS
Schule
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